Söhne ohne Väter - Das Trauma der Hinterbliebenen Erfahrungen und Ausweg

Söhne ohne Väter - Das Trauma der Hinterbliebenen Erfahrungen und Ausweg

von: Hermann Schulz, Jürgen Reulecke, Hartmut Radebold

Ch. Links Verlag, 2013

ISBN: 9783862842285

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 972 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Söhne ohne Väter - Das Trauma der Hinterbliebenen Erfahrungen und Ausweg



Annäherung an das Thema


Um dem bedrohten Vaterland beizustehen, unternahm der Vater 1944 den in seinen Augen konsequenten patriotischen Schritt: Er wurde Mitglied der Waffen-SS. Soviel Begeisterung wurde mit dem aktiven Dienst im Konzentrationslager Auschwitz »belohnt«. Zum Ende lagerte man das KZ nach Neuengamme aus. Dort wurde der Vater mit vielen anderen von den Engländern verhaftet und später den polnischen Behörden übergeben. Der Musterprozess, so berichtet sein Sohn im Jahr 2003, wurde sehr korrekt geführt; der polnische Verteidiger setzte sich sogar mit der Familie im Rheinland in Verbindung.

Was der Sohn weiß, was er gehört hat, was zu vermuten ist, setzt ihn in lebenslange Verwirrung: Gibt es für ihn, so fragte er sich, angesichts der Geschehnisse in Auschwitz und anderswo noch ein Recht zum Überleben? Was hat sein Vater dort konkret getan? Wird ihn, den Sohn, jemals eine Frau als Partner akzeptieren, wenn sie vom Leben seines Vaters erfährt?

Welche Chance hat ein solcher Sohn, das Vaterleben in seiner »Entschiedenheit«, in seinen schrecklichen Widersprüchen zu interpretieren? Wie kommt er selbst darin vor? Als Mitte der fünfziger Jahre der Vater unbeirrt und unbelehrt zurückkehrt, ist das für den Sohn erst recht keine Erlösung; er ergreift aus einem unbestimmten Gefühl heraus, stellvertretend etwas gut machen zu müssen, den Pfarrerberuf.

Rainer John, ein anderer Gesprächspartner dieses Buches, wurde als Kleinkind von russischen Soldaten an der Landstraße zwischen Küstrin und Frankfurt/Oder gefunden. Sie nahmen den Jungen auf ihren Panzer und übergaben ihn, da er offensichtlich von Deutschen abstammte, einem ostpreußischen Flüchtlingswagen. In Kiel kam er in die Obhut des Roten Kreuzes, später zu verschiedenen Pflegefamilien. Nach dem erfolgreichen Studium leitete er eine Schule. Die Straße, auf der ihn die russischen Soldaten aufgelesen haben, hat er wieder gefunden, Namen und Schicksale seiner Eltern und möglicher Geschwister nicht. Die Hoffnung, während stundenlanger Wanderungen auf dieser Straße würde Erinnern einsetzen, hat sich nicht erfüllt. Nur eines glaubt John heute sicher zu wissen: »Als ich meine Familie verlor, war mein Vater schon nicht mehr dabei.« Hier, wie bei fast allen vaterlos aufgewachsenen Söhnen: tief sitzende, heimliche oder offen geäußerte Spekulationen, Hoffnungen oder trotzige Gewissheit: Er, mein Papa, hätte mich, wäre er dabei gewesen, nicht am Straßenrand allein gelassen! Mit ihm wäre alles anders geworden.

Die meisten der im ersten Teil dieses Buches veröffentlichten Schicksale lesen sich weniger dramatisch als die beiden hier vorangestellten. Für ein Kind macht es aber keinen Unterschied, ob der Vater gefallen ist für Volk und Vaterland, vermisst, verhungert, in Gefangenschaft oder irgendwo seinen Verletzungen erlegen ... Der Verlust des Vaters ist ein brutaler Einschnitt, der den Sohn, das Kind, lebenslang begleitet – und beschädigt! Das Nicht-fragen-können bleibt das Drama, die Falle für Selbstquälerei, für Selbsttäuschung, für verwirrende Phantasien. Lebensgefühl und Selbstverständnis stehen, wenn nicht heilende Kräfte helfen, für immer auf wackligem Boden und prägen das Leben der Betroffenen entscheidend.

Kernstück dieses Buches bilden die Aussagen von Männern, die zwischen 1933 und 1945 (bis auf zwei Ausnahmen aus den Jahren 1930 und 1931) geboren wurden und durch Kriegseinwirkung vaterlos aufwuchsen. Es macht Sinn, kriegsbedingte Vaterlosigkeit gesondert zu betrachten; sie ist nicht auf allen Ebenen vergleichbar mit anderen Trennungsumständen. Die Gesprächspartner des Buches erzählen Geschichten – von sich, von vielen Vätern, von Gefühlen und Träumen. Die Vaterbilder und Erinnerungen der zurückgelassenen Söhne unterscheiden sich; jeder Vater, jeder Sohn, jede Familienkonstellation ist anders. Das Gemeinsame aller Erfahrungen aber ist die oft nicht eingestandene lebenslange Trauer, mehr noch die meist erst spät einsetzende Wahrnehmung von Leere, von fehlendem Halt, vom Fehlen ordnender Prinzipien – und des ständigen Zwanges, diese Defizite zu überwinden.

Häufig ist der abwesende Vater allerdings so mächtig sichtbar und bestimmend wie ein anwesender; manchmal sogar noch stärker. Wie lebende Väter stiften sie Verwirrung, fordern Leistungen, werden zum Maßstab – und hinterlassen, weil es für »alle Fragen zu spät« ist (Peter Härtling), bedrückende Hilflosigkeit – aber auch couragierte (stellvertretende, zum Teil erzwungene) Entscheidungsfreude. Der verlorene Vater ist als eine verdrängte Realität im Innersten wirksam; eine unsichtbare Größe, ein Irrlicht, eine Fata Morgana in Uniform oder Werkskittel, Auslöser von Sehnsüchten mit allen Folgen erzwungener Vereinsamung. Er ist da, aber seine Liebe lebt nur in der heimlichen Vorstellung des Sohnes.

Was bringt es, davon zu sprechen oder zu schreiben? Jeder Schriftsteller, jeder Seelsorger, jeder Psychotherapeut weiß von der befreienden Wirkung des Wortes und der Begegnung zwischen Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben und im Austausch miteinander die Einsamkeit überwinden. Einige der hier beteiligten Männer berichten von den schmerzhaften, aber letztlich bereichernden Versuchen, die Vaterlosigkeit endlich in Worte zu fassen. Oder Schicksalsgenossen zu begegnen. Solche Begegnungen haben auf Tagungen zum Thema stattgefunden; viele Kontakte zu Betroffenen, die an diesem Buch mitgewirkt haben, gehen auf diese Begegnungen zurück.

Es geht in diesen Texten um vorsichtige Annäherungen an die eigenen Gefühle, durch Erinnern und Erzählen. Und um Fragen, die alle angehen: In welchen Erfahrungsräumen, durch welche Kräfte erhielt der vaterlose Sohn Orientierung? Wer half ihm (stellvertretend) die notwendigen Grenzsetzungen zu erkennen, die Leere zu füllen; wer hat ihn den Ordnungssinn gelehrt, ohne den männlicher Mut zu Übermut wird? Auf diese und andere Fragen antworten vierzig betroffene Männer. Sie versuchen die vorsichtige Annäherung an Kindheitsgefühle, die Auslotung der Kräfte, die schlecht oder recht zum Überleben halfen. Sie schrieben auf der Grundlage eines Fragebogens, der von Hartmut Radebold formuliert und von Jürgen Reulecke und Hermann Schulz ergänzt wurde.

Die Autoren einigten sich auf zehn Fragenkomplexe (mit einigen weiterführenden Fragen), die mehr oder weniger wörtlich den Kapiteln des Buches vorangestellt sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass weder die Fragen noch die Antworten in allen Fällen scharf abgegrenzt formuliert wurden. In zehn Kapiteln haben die Autoren diese Erinnerungsgeschichten geordnet – soweit Erinnerungen vorhanden sind. In allen diesen Schicksalen wurde die Familiennormalität durch den Tod des Vaters im Krieg gewaltsam beendet oder durch Kriegsgefangenschaft für lange Zeit unterbrochen. Die Beschäftigung mit den kindlichen Lebensabschnitten, oft Jahrzehnte lang verdrängt und von der Gesellschaft ausgeklammert als bedeutungslose Altlast, ist eine notwendige Auseinandersetzung mit einem Teil unserer Geschichte: mit der Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit, mit der Persönlichkeit des Vaters, wie sie dem Sohn vermittelt wurde, wie er ihn sich wünschte, wie dieser Mann vielleicht gar nicht gewesen ist. Die Lebensstrategien, dem vaterlosen und damit amputierten Leben endlich deutlichere Konturen zu geben, und vielleicht tiefer liegende Schichten der Existenz zu erkennen, sind zahlreich.

Die Väter, von denen hier die Rede ist, wurden nicht zu solchen Vätern, denen die Söhne im Laufe des Lebens eine Absage erteilen können, an denen sie sich reiben oder denen sie begeistert folgen. Solchen Söhnen hat es das Schicksal verweigert, in der Auseinandersetzung, im Messen der Kräfte und der Charaktere, mit ihrer Persönlichkeit vor den Augen und vor der Seele solch eine Entscheidung zu treffen: Niemals will ich so werden wie er; oder: Ja, so ähnlich möchte ich werden! Oft ist von übrig gebliebenen Fotos die Rede, häufig letzte Aufnahmen in Soldatenuniform. Sie helfen zwar weiter, provozieren aber auch unausgesprochene Grübeleien und hilflose Spekulationen: Nein, so war er nicht! Er war so wie ich! So hat er nicht ausgesehen! So erkenne ich ihn nicht!

Suche auf Bildern, bis sie vor den Augen verschwimmen. Suche nach den eigenen Verankerungen in den Familiengeschichten, aus denen er sich verabschiedet hat; unausgesprochene hilflose Wut auf ihn, die Trauer überdeckend. Warum ist er nicht geblieben? Wie hätte das Leben mit ihm sein können? Dann aber auch Zweifel, ob ein Leben mit ihm wirklich besser gewesen wäre. Die Berichte enthalten ja auch Drohbilder, vermittelt von der Familie oder durch Hochrechnungen aus seinen Funktionen im Naziregime. Aber darum geht es nicht: Sicher ist, dass das Leben anders gewesen wäre. Auf die meisten Fragen gibt es keine schlüssigen Antworten, allenfalls mühsame Versuche, sie doch noch zu finden. Vielleicht fallen sie auch deshalb so schwer (und kommen so spät), weil diese Väter Beteiligte des von Nazi-Deutschland begonnenen Krieges waren. Kann aber ein Kind, das den Verlust tragen musste, das begreifen?

Durch den frühen Tod des Vaters und die mageren Erinnerungen bleiben nicht nur Fragen unbeantwortet, sondern sind auch Möglichkeiten grundlegender Lebenserfahrungen verbaut. Das Bewusstsein davon wird von den Familien in einem Reflex von Selbstschutz oft verweigert.

Die Gesprächspartner dieses Buches, ausnahmslos Betroffene, finden für ihr dramatisches Schicksal meist sachliche und undramatische Worte. Ihr Schicksal haben sie mit vielen ihrer...

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