Tod im Watt - Ein Nordsee-Krimi

Tod im Watt - Ein Nordsee-Krimi

von: Hanne Nehlsen

Aufbau Verlag, 2013

ISBN: 9783841205919

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 751 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Tod im Watt - Ein Nordsee-Krimi



Eins


Die Herbststürme setzen in diesem Jahr früh ein, dachte Frerk Thönnissen, während er den Mann beobachtete, der sich auf dem Deich seinem Haus näherte. Wilken Nissen schob ein altes Fahrrad und hatte sich tief über den Lenker gebeugt, um dem Wind, der an seiner Kleidung zerrte, wenig Widerstand entgegenzusetzen. In der freien Hand hielt er einen länglichen Gegenstand. Die tief liegenden Wolken jagten von der See her über die Insel. Obwohl es erst früher Nachmittag war, hatte das Grau des Himmels das Tageslicht so weit gedämpft, dass hinter den Fenstern der niedrigen Häuser Licht brannte. Der Regen trommelte gegen die Scheiben, der Sturm heulte in den Dachüberständen und verfing sich in den Ziegeln. Die kahlen Zweige der Kopfweiden peitschten im Wind, erbarmungslos riss er die letzten Blätter von den Büschen.

Thönnissen stand am Fenster seines Hauses, das unmittelbar am Deich lag, und sah durch die Butzenscheiben nach draußen. Jetzt hatte ihn auch Nissen bemerkt. Der Mann in der dunkelgrünen Öljacke hob die Hand mit dem Gegenstand und winkte heftig, unterbrach seine Aktion aber sehr schnell, als ihm die nächste Böe das Zweirad fortzureißen drohte.

Nissen wohnte zwei Häuser weiter, was in der dünn besiedelten Region allerdings etwa zweihundert Meter Abstand bedeutete. Er war knapp über sechzig und hatte früher seinen Lebensunterhalt wie viele Männer auf der Insel beim Küstenschutz verdient. Nebenher betrieb er eine kleine Landwirtschaft, hatte ein paar Schafe, eine Handvoll Rinder und Hühner zum Eigenbedarf.

Nissen verließ die Deichkrone über die schmale Rampe, die zu Thönnissens Haus führte.

Der atmete tief durch, hakte mit dem Daumen in den Hosenbund und zog die Hose hoch. Dann durchquerte er das behaglich eingerichtete Wohnzimmer, ging durch die geflieste Diele und öffnete die niedrige Tür auf der dem Wetter abgewandten Rückseite des Hauses. Obwohl der Sturm hier nicht so heftig tobte wie im Westen, wehte der kalte Wind herein, und Thönnissen fröstelte.

Nissen erschien an der Hausecke, lehnte sein Fahrrad gegen die Wand und trat ohne Zögern ins Haus. Dem Mann troff die Nässe aus allen Poren. Dann drehte er sich um und sah Thönnissen ins Gesicht. Die grauen Augen im wettergegerbten Gesicht waren zu einem schmalen Spalt geworden.

»Ich hab’ Wessels gefunden«, sagte er atemlos.

Thönnissen sah ihn verständnislos an. »Na, und?«

Nissen schüttelte heftig den Kopf. Dabei sprenkelten kleine Wassertropfen aus seiner Wollmütze. »Der ist tot, verstehst du? Tot.«

»Was sagst du?«, fragte Thönnissen erstaunt.

Nissen fuhr sich mit der gestreckten rechten Hand über die Kehle. »Begreifst du das nicht? Der ist hin.« Die beiden Männer schenkten der Wasserlache keine Beachtung, die sich um Nissen gebildet hatte.

»Nee!«

»Doch, Mensch. Damit hat er sich erschossen. Glaube ich jedenfalls«, schob er etwas leiser hinterher. Er streckte Thönnissen ein verdrecktes Gewehr hin. »Nimm mal«, forderte Nissen, »damit ich mich ausziehen kann.«

Thönnissen ergriff die Waffe und schnupperte daran. »Riecht, als wäre daraus geschossen worden.«

»Was meinst du denn?«, empörte sich Nissen. »Glaubst du, irgendwer bringt Wessels um? Warum sollte einer den alten Spinner ermorden. Und das hier, auf unserer Insel? Auf Pellworm?«

Er hatte seine Öljacke ausgezogen und wollte die Waffe wieder zurückhaben, doch Thönnissen entzog sie ihm.

»Die behalte ich!« Er lehnte sie gegen die Wand und sah seinen Besucher an. »Komm erst mal rein. Willste einen Schnaps?«

»Ja, den kann ich jetzt brauchen.« Nissen hatte sich jetzt seiner gesamten Kleidung entledigt und sie achtlos auf die Fliesen der Diele geworfen. Auf Strumpfsocken folgte er in die Wohnstube, die Thönnissen auch als Büro diente. Der holte zwei Gläser aus einem Schrank, eine angebrochene Flasche mit Rum und füllte ein. Nissen hob sein Glas. »Auf den alten Wessels. Prost.«

Sie tranken. Thönnissen füllte nach, und erst als sie auch das zweite Glas geleert hatten, fragte er: »Wo hast du ihn gefunden?«

»Im Westen. Am Parlament. Hinten, hinterm Knick. Zwischen meiner und Feddersens’ Wiese. Da lag er im kleinen Sielzug. Ich hab’ ihn vom Deich aus gesehen. Bin sofort runter und dachte, dem ist schlecht. Hab’ zuerst versucht, ihn aus dem Dreck zu ziehen. Erst da hab’ ich kapiert, dass er tot war. Hat sich mit seiner Flinte erschossen.«

»Bist du dir sicher, dass er tot ist?«

Nissen zeigte Empörung. »Hör mal. Ich hab’ genug Schafe und Hühner in meinem Leben geschlachtet, dass ich weiß, wann jemand tot ist.« Dabei drehte er die geballten Fäuste gegeneinander, als würde er einem Hahn den Garaus machen.

Thönnissen strich sich mit der Hand über die Mundwinkel. »Ich glaube, Wilken, das ist ein schlechtes Beispiel.«

»Kann sein. Aber der ist bestimmt alle. Und? Was machen wir jetzt? Schließlich bist du die Polizei«, erinnerte Nissen daran, dass Frerk Thönnissen den Polizeiposten auf der Insel bekleidete.

»Wir informieren den Doktor«, entschied der Polizist. »Dann zeigst du mir die Stelle.«

»Was soll ich bei diesem Wetter da draußen?«, protestierte Nissen.

»Du bist ein wichtiger Zeuge.«

»Schön. Wenn du willst. Aber vorher schenkst du noch einen ein.« Nissen drehte sein leeres Glas in der Hand.

Seufzend öffnete Thönnissen die Flasche und befüllte die beiden Gläser erneut. Nachdem auch diese geleert waren, griff er zum Telefon und wählte die Nummer des Arztes. Es dauerte ewig, bis sich eine verschlafen klingende Frauenstimme meldete.

»Ja. Hallo?«

»Moin, Annemieke. Hier ist Thönnissen. Ist Fiete da?«

Die Frau des Arztes gähnte herzhaft am anderen Ende der Leitung. »Der schläft. Was ist denn los?«

»Dann weck ihn. Es ist ein Notfall.«

Sie schien mit einem Schlag munter geworden zu sein. »Ehrlich? Friedrich hat doch erst morgen wieder Sprechstunde.«

»Manchmal warten die Patienten eben nicht. Sag ihm, es wäre wichtig. Es handelt sich um einen Toten.«

Die Neugierde war bei der Arztfrau geweckt. »Wer ist gestorben?«

»Wessels.«

»Mein Gott. Den habe ich doch heute Vormittag noch gesehen. Da war er noch ganz munter.« Sie zögerte einen Moment. »Wenn er schon tot ist, dann eilt das doch nicht.«

Thönnissen räusperte sich. »Annemieke, ich spreche jetzt offiziell als Polizeibeamter. Du weckst jetzt umgehend Fiete. Der soll sofort zum Sielzug am Deich hinauskommen. Am Knick zwischen den Wiesen von Feddersen und Nissen. Ist das klar?«

Einen Moment war es still in der Leitung, bis sich die Arztfrau mit leiser Stimme vernehmen ließ: »Fiete geht es im Moment nicht so gut.«

Thönnissen konnte sich gut vorstellen, was sie damit meinte. Wahrscheinlich lag der Doktor in seiner Kammer und schlief seinen Rausch aus. Jeder auf der Insel wusste um das Alkoholproblem des Arztes. Aber sie waren auf ihn angewiesen. Trotz intensiver Bemühungen hatte sich bis heute kein anderer Mediziner gefunden, der die Praxis auf dem Eiland übernehmen wollte. Und wenn Dr. Johannsen nüchtern war, konnte er dank seiner langjährigen Erfahrung die meisten gesundheitlichen Alltagsprobleme der Inselbewohner lindern. Für ernsthafte Erkrankungen suchte man ohnehin einen Spezialisten auf dem Festland auf.

Thönnissen hörte, wie die Arztfrau leise zu weinen begann. »Er kann wirklich nicht. Mein Gott«, jammerte sie.

»Annemieke, koch einen starken Kaffee und flöß Fiete das Zeug ein. Wir bringen Wessels zu euch in die Praxis«, fasste der Polizist einen Entschluss und legte auf, ohne die Antwort abzuwarten.

»Wie willst du Wessels zum Doktor bringen?«, wollte Nissen wissen und zeigte nach draußen, wo der Sturm unvermindert tobte. »Wir können ihn doch nicht bis hierher schleifen. Und die Deichkrone ist so aufgeweicht, da kommst du mit keinem Wagen durch.«

»Aber mit einem Trecker.«

Thönnissen griff erneut zum Telefon. Als sich jemand am anderen Ende meldete, sagte er: »Hallo, Kathrin. Ist Boy da?« Thönnissen lauschte in den Hörer, um anschließend zu erwidern: »Das interessiert mich nicht, ob der gerade im Getränkelager Flaschen zählt. Hol ihn an den Apparat. Das ist dringend. Und wichtig!« Er sah Nissen an und verdrehte kunstvoll die Augen, während er wartete.

»Moin, hier ist Thönnissen«, fuhr er fort, als sich der Gesprächspartner meldete. »Wir brauchen deine Hilfe. Wessels ist tot. Nissen hat ihn vorhin gefunden. Wir müssen ihn zum Doktor bringen. Das geht nur mit einem Trecker.«

»Du spinnst doch«, entgegnete Boy Feddersen, der neben seiner Landwirtschaft ein Hotel auf der Insel betrieb und zudem Bürgermeister der Gemeinde war, nachdem sein Vorgänger in den Landtag gewählt worden war.

»Ganz und gar nicht. Du holst deinen Trecker. Mit dem können wir auf dem aufgeweichten Weg fahren. Außerdem hast du doch diesen hölzernen Kasten, den du auf die Kupplung montieren kannst. Ich meine das Ding, mit dem du deine Milchkannen von der Weide transportierst.«

Feddersen stöhnte auf. »Mensch, hast du mal aus dem Fenster geguckt?«

»Glaubst du, Wessels hat auf dieses Wetter gewartet, um zu sterben?«

»Wie ist er denn umgekommen?«, wich der Hotelbesitzer aus.

»Erschossen.«

»Er sich selbst?«

»Das steht noch nicht fest. Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Wer hätte einen Grund, den alten Wessels umzubringen?«,...

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