Der Sommer, als ich schön wurde - Als Originalserie auf prime video

Der Sommer, als ich schön wurde - Als Originalserie auf prime video

von: Jenny Han

Carl Hanser Verlag München, 2012

ISBN: 9783446242173

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1147 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Sommer, als ich schön wurde - Als Originalserie auf prime video



1


Wir waren seit geschätzten siebentausend Jahren unterwegs. Wenigstens fühlte es sich so an. Mein Bruder Steven fuhr noch langsamer als unsere Granny. Ich saß auf dem Beifahrersitz, die Füße auf dem Armaturenbrett. Meine Mutter hielt auf der Rückbank ein Nickerchen. Selbst wenn sie schlief, sah sie so konzentriert aus, als könnte sie jeden Moment wach werden und den Verkehr lenken.
»Jetzt schleich doch nicht so«, drängelte ich und bohrte Steven den Finger in die Schulter. »Und überhol endlich den Jungen auf dem Rad.«
Steven schüttelte mich ab. »Finger weg vom Fahrer!«, sagte er. »Und nimm gefälligst deine dreckigen Füße von meinem Armaturenbrett.«
Ich wackelte mit den Zehen. Mir kamen sie ziemlich sauber vor. »Was heißt hier dein Armaturenbrett? Das Auto ist demnächst meins, und das weißt du.«
»Falls du je den Führerschein schaffst«, spottete er. »Leute wie dich sollte man sowieso nicht ans Steuer lassen.«
»He, guck mal«, sagte ich und zeigte aus dem Fenster. »Der Typ da im Rollstuhl hat uns eben überholt!«
Aber Steven beachtete mich nicht, und so begann ich, am Radio rumzuspielen. Die örtlichen Radiosender gehörten für mich zu dem, was die Fahrt ans Meer so schön machte. Sie waren mir genauso vertraut wie die bei uns zu Hause, und erst wenn Q94 aus dem Lautsprecher kam, wusste ich, dass ich wirklich wieder da war, am Meer.
Ich stellte meinen Lieblingssender ein, den, der von Pop über Oldies bis hin zu Hip-Hop alles spielte. Genau das war auch sein Motto: »Wir spielen alles.« Tom Petty sang gerade Free Fallin’, und ich sang sofort mit. She’s a good girl, crazy ’bout Elvis. Loves horses and her boyfriend too.
Steven wollte den Sender wechseln, aber ich klopfte ihm auf die Finger. »Belly, wenn du singst, kriegt man glatt Lust, den Wagen ins Meer zu steuern.« Dabei tat er so, als schlingerten wir nach rechts.
Ich sang noch lauter, meine Mutter wachte auf und sang gleich mit. Wir hatten beide schreckliche Stimmen, und Steven schüttelte auf seine typische angewiderte Art den Kopf. Er hasste es, in der Minderheit zu sein. Das störte ihn auch an der Scheidung meiner Eltern am meisten, dass er jetzt der einzige Mann im Haus war, ohne Dad, der sich auf seine Seite schlug.
Wir fuhren langsam durch die Stadt, und obwohl ich Steven eben noch wegen seines Schleichtempos aufgezogen hatte, hatte ich im Grunde nichts dagegen. Ich liebte die Strecke, diesen Moment, wenn ich die Stadt wiedersah, Jimmys Krabbenbar, die Minigolf-Anlage, die vielen Surferläden. Es war wie nach Hause zu kommen, nachdem man ganz, ganz lange weg gewesen war. Der Sommer lag vor uns, mit seinen zahllosen Versprechen und Möglichkeiten.
Als wir dem Haus immer näher kamen, spürte ich dieses vertraute Flattern in meiner Brust. Wir waren fast da.
Ich ließ das Fenster runter, um alles in mich aufzunehmen. Die Luft schmeckte wie immer, roch wie immer. Der Wind, dieser salzige Seewind, von dem die Haare so klebrig wurden, alles fühlte sich genau richtig an. So als hätte alles nur auf mich gewartet.
Steven stieß mich mit dem Ellbogen an. »Na, denkst du an Conrad?«, fragte er spöttisch.
Ausnahmsweise war die Antwort mal Nein. »Nein!«, blaffte ich ihn an.
Meine Mutter streckte den Kopf zwischen den beiden Vordersitzen hindurch. »Hast du noch immer eine Schwäche für Conrad, Belly? Letzten Sommer sah es fast so aus, als würde zwischen dir und Jeremiah was laufen.«
»WAS? Du und Jeremiah?« Steven verzog das Gesicht. »Was war mit dir und Jeremiah?«
»Nichts«, erklärte ich den beiden. Ich spürte, wie mir die Röte langsam ins Gesicht stieg, und wünschte, ich wäre schon braun, damit es weniger auffiel. »Mom, bloß weil zwei Leute gut miteinander klarkommen, muss da doch nichts zwischen ihnen laufen. Fang bitte nicht noch mal damit an.«
Meine Mutter ließ sich wieder in ihren Sitz zurücksinken. »Abgemacht«, sagte sie mit einem so endgültigen Tonfall, dass ich wusste, dagegen käme Steven nicht an.
Aber weil Steven nun mal Steven war, ließ er trotzdem nicht locker. »Was war denn mit dir und Jeremiah? Ihr könnt doch nicht erst so eine Bemerkung machen und dann keine Erklärung dazu abgeben.«
»Damit musst du dich wohl abfinden«, sagte ich. Wenn man Steven irgendwas erzählte, dann würde er das bloß als Munition nehmen, um sich über mich lustig zu machen. Außerdem gab es nichts zu erzählen. Hatte es auch nie gegeben, nicht wirklich.
Conrad und Jeremiah waren Becks Söhne. Beck war Susannah Fisher, früher Susanna Beck. Meine Mutter war die Einzige, die sie Beck nannte. Die beiden kannten sich, seit sie neun waren – Blutsschwestern nannten sie sich. Und sie hatten auch die Narben, die das bewiesen, identische herzförmige Narben an den Handgelenken.
Als ich zur Welt kam – hat Susannah mir erzählt –, da wusste sie gleich, dass ich für einen ihrer Jungs bestimmt sei. Schicksal sei das, meinte sie. Meine Mutter, die es normalerweise mit diesen Dingen nicht so hatte, meinte, das sei doch perfekt, allerdings sollte ich mich vorher wenigstens noch ein paarmal anderweitig verlieben. Ein paar andere Liebhaber haben, hat sie übrigens wörtlich gesagt, aber das fand ich echt peinlich. Susannah nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und sagte: »Belly, du hast meinen Segen, ein für alle Mal. Ich fände es furchtbar, meine Jungs an eine andere zu verlieren.«
Seit meiner Geburt sind wir jeden Sommer in Susannahs Sommerhaus am Strand von Cousins Beach gewesen. Sogar schon vor meiner Geburt. Wenn ich an Cousins denke, denke ich mehr an das Haus und weniger an den Ort. Das Haus war meine Welt. Wir hatten unseren eigenen Strand, ganz für uns alleine. Es gab eine Menge, was für mich zum Haus gehörte: die Veranda, über die wir immer rings ums Haus rannten, die großen Kannen mit Sommertee, der nächtliche Pool – und die Jungs. Vor allem die Jungs.
Ich fragte mich immer, wie die beiden wohl im Dezember aussehen mochten. Ich versuchte sie mir mit Rollkragenpullovern und cranberryroten Schals vorzustellen, mit geröteten Backen oder neben einem Weihnachtsbaum, aber keins dieser Bilder schien zu stimmen. Ich kannte den Winter-Jeremiah oder den Winter-Conrad einfach nicht, und ich war eifersüchtig auf jeden, der das Glück hatte. Für mich blieben Flip-Flops und Badehosen und Sand und Nasen mit Sonnenbrand. Aber was war mit diesen Neuengland-Mädchen, die sich mit den beiden Schneeballschlachten im Wald lieferten? Die sich im Auto an sie kuschelten, bis die Heizung auf Touren kam, und denen sie ihre Jacken umhängten, wenn es draußen kalt war. Zumindest Jeremiah, der schon. Conrad nicht. Niemals, das war nicht sein Stil. Aber wie auch immer, es war nicht fair.
In Geschichte saß ich dicht neben der Heizung und fragte mich, was die beiden wohl machten, ob sie sich auch gerade irgendwo die Füße an einem Heizkörper wärmten. Und dabei die Tage zählten, bis wieder Sommer war. Für mich zählte der Winter so gut wie nicht. Bloß der Sommer, auf den kam es an. In meinem Leben zählten überhaupt nur die Sommer. So als lebte ich gar nicht richtig vor Juni, bevor ich wieder am Strand war, in diesem Haus.
Conrad war eineinhalb Jahre älter als Jeremiah.
Er war der düstere Typ, richtig finster. Und natürlich nicht greifbar. Unerreichbar. Er verzog immer leicht spöttisch den Mund, und irgendwie musste ich dauernd darauf starren. Diese spöttisch verzogenen Münder will man immer küssen, will sie glatt streichen und den Spott wegküssen. Oder vielleicht nicht einmal wegküssen … nur irgendwie unter Kontrolle kriegen. Ganz für sich haben. Genau das war es, was ich von Conrad wollte. Ihn für mich haben.
Jeremiah dagegen – er war mein Freund. Er war nett zu mir. Er war der Typ Junge, der noch immer seine Mutter umarmte und der noch immer ihre Hand hielt, auch wenn er theoretisch zu alt dafür war. Es war ihm aber auch nicht peinlich. Dafür hatte Jeremiah keine Zeit – er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu vergnügen.
Ich wette, Jeremiah war in der Schule viel beliebter als Conrad. Ich wette, er kam bei den Mädchen besser an. Ich wette, ohne sein Football wäre Conrad niemand Besonderes. Er wäre kein Footballgott, sondern einfach der stille, etwas mürrische Conrad. Mir gefiel das. Mir gefiel, dass Conrad lieber für sich blieb und Gitarre spielte. So als hätte er mit diesem ganzen albernen High-School-Kram nichts am Hut. Ich stellte mir gerne vor, dass Conrad, wenn er an meiner Schule wäre, nicht Football spielte, sondern in der Redaktion unseres Literaturmagazins wäre und auf jemanden wie mich aufmerksam würde.
Als wir endlich da waren und in die Einfahrt einbogen, saßen Jeremiah und Conrad vorn auf der Veranda. Ich lehnte mich an Steven vorbei und drückte zweimal auf die Hupe, was in unserer Sommersprache so viel bedeutete wie: Kommt und helft uns mit dem Gepäck. Aber dalli!
Conrad war jetzt achtzehn. Er hatte erst kürzlich Geburtstag gehabt. Er war noch größer als letzten Sommer, auch wenn man das kaum für möglich gehalten hätte. Die Haare, so dunkel wie eh und je, trug er jetzt um die Ohren herum kurz geschnitten. Jeremiahs dagegen waren länger geworden, ein bisschen verstrubbelt sah er aus, aber gut – wie ein Tennisspieler in den Siebzigern. Als er noch jünger war, hatte er lockige, hellblonde Haare, die im Sommer fast silbrig wurden. Jeremiah hasste seine Locken. Eine Zeit lang hatte Conrad es geschafft, Jeremiah einzureden, dass man von Brotkanten Locken bekam, und Jeremiah hatte ab sofort die Kanten von seinen Sandwiches liegen lassen,...

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