Wo man singt - Roman

Wo man singt - Roman

von: Simon Raven

Elfenbein Verlag, 2023

ISBN: 9783961600458

Sprache: Deutsch

264 Seiten, Download: 4805 KB

 
Format:  EPUB

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Wieder verfügbar ab: 21.05.2024 20:10

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Wo man singt - Roman



Teil II

DES KÖNIGS ANGELEGENHEIT

»Benedic, Domine, nobis«, intonierte Robert Reculver Constable, der Provost von Lancaster College, »et his consiliis nostris. Amen.«

»Amen«, wiederholten die anderen neunzehn Mitglieder des Rates, die jeweils hinter ihren Stühlen am »Großen Tisch für des Königs Angelegenheit« standen, einem wuchtigen, dreiundzwanzig Meter langen rechteckigen Möbelstück aus Eichenholz, das nur bei solchen Versammlungen genutzt wurde.

»Warum habt Ihr uns heuer geladen?«, deklamierte Grantchester Pough, der als Senior Fellow den Platz am unteren Ende des Tisches eingenommen hatte, mit dröhnender Stimme.

»Mein Ohr will ich Euch leih’n und Rat Euch geben.«

»Und soll’n wahrhaft wir und furchtlos sprechen?«

»Wahrhaft und furchtlos und als gute Kameraden, denn so wünscht es unsere gnädige Herrin, die Königin.«

»So schütze Gott unsere Herrin, die Königin«, brüllte Grant­chester Pough, der jedes Wort davon auch wirklich meinte, »und Gott sei der Seele unseres lieben Herrn und Gründers, des seligen Heinrich von Lancaster, gnädig. Amen.«

»Amen«, kam auch von allen anderen.

Der Provost ergriff wieder das Wort: »Ist es Ihr Wille, dass ich fortfahre?«

»Es ist unser Wille.«

Alle setzen sich, mit Ausnahme des Provosts selbst.

»Welche Angelegenheit liegt vor, Master Provost?«, rief Pough vom anderen Ende des Tisches.

»Hört und merkt auf!«

Da mit diesem Redewechsel die Eröffnungsformalitäten erledigt waren, steckten sich Balbo Blakeney und mehrere andere nun Zigaretten an. Der Provost wühlte in seinen Papieren, räusperte sich, wühlte dann weiter. Hinter ihm blickte von einem Porträt herab Provost Lauderdale finster in die Runde, der einst auf dem Platz vor dem College niedergemetzelt worden war, nachdem er den Parlamentsabgeordneten den Einlass verwehrt hatte. Jacquiz Helmut zupfte seinen scharlachroten Talar zurecht, bis er so saß, wie es ihm gefiel, während der Senior Fellow irgendwo aus seinen Utensilien ein Rabelais alle Ehre machendes Rachenspray hervorkramte und mit sturzbach­artigen Geräuschen seine gebleckten Mandeln damit einspritzte.

Dann herrschte Stille in der Großen Ratskammer, und alle warteten auf das, was der Provost bekanntlich sagen muss-te.

»Oberster Quästor«, sagte der Provost.

Der Provost setzte sich. Der Oberste Quästor erhob sich, inzwischen war es Viertel nach zehn, und forderte bis zur Mittagszeit ihre Aufmerksamkeit mit der Verlesung der Geschäftsbücher nach dem Stand vom 1. April. Niemand durfte währenddessen den Raum verlassen, und es durfte auch niemand erst danach zur Ratsversammlung dazustoßen. Diese Regelung machte eindeutig klar: Entweder nahmen die Mitglieder vom ersten Wort an an der Zusammenkunft teil, oder sie blieben ihr gänzlich fern. Und das war eine sehr gute Regelung, denn da es Bedingung war, dass generell jeder, der etwas sagen oder seine Stimme abgeben wollte, zunächst mindestens drei Stunden lang auf seinem Sitzplatz ausharrend die arithmetische Rezitation des Obersten Quästors über sich ergehen lassen musste, kamen die Unseriösen oder Ungeduldigen, sollte je versehentlich so jemand in den Rat berufen worden sein, ganz schnell davon ab, sich auf irgendeine Weise am »Großen Tisch für des Königs Angelegenheit« einzubringen.

Um halb zwei, als die Finanzen schließlich zu drei Vierteln verlesen waren, machte der Verwaltungsrat eine Pause, um den traditionellen Mittagsimbiss, bestehend aus eingelegtem Hering und einem kleinen Bier, einzunehmen.

»Werde ich diesen Mayerston nett finden?«, fragte Hetta Hugh, als sie am Mittag in einem am Fluss gelegenen Pub ihre Sandwiches aßen.

Hugh hatte das ungute Gefühl, dass es nicht so sein würde.

»Das wirst du dann sehen, wenn du ihn heute Abend kennenlernst«, sagte er.

»Warum denn erst dann?«, fragte Hetta. »Ich meine, wenn das alles so dringend und aufregend ist.«

»Ich vermute, er hat bis dahin anderes zu tun«, sagte Hugh, den mit einem Mal noch ein anderes ungutes Gefühl überkam, nämlich dass Mayerston seinen Unterschlupf, wie Dracula, vielleicht gar nie vor Sonnenuntergang verließ.

»Und du sagst, dass ich eine wichtige Rolle spielen werde?«, fragte Hetta beharrlich weiter.

»Eine sehr wichtige.«

»Warum erzählst du mir dann nichts?«

»Mayerston wird das viel besser können.«

»Niemand erklärt Dinge besser als du.«

»Es geht nicht nur ums Erklären«, sagte Hugh. »Wir wollen, dass du auch an das glaubst, was du tun sollst.«

»Solange du das willst«, sagte Hetta, »werde ich dran glauben.«

Hetta fühlte sich immer noch schuldig, weil sie im Großen Innenhof von Lancaster am vorherigen Nachmittag kurz schwach geworden war.

»Trotzdem«, sagte Hugh und reichte ihr ein Sandwich, »am besten hörst du es von Mayerston selbst. Iss also diese leckere Salami auf, und dann können wir gehen.«

»In dein Zimmer?«, fragte Hetta eifrig.

»Heute Nachmittag nicht. Draußen ist es so schön, ich dachte, wir könnten mit dem Stocherkahn runter nach Grantchester fahren.«

»So was machst du doch sonst nie! Mit dem Stocherkahn runter nach Grantchester … Wie ein Lord in einem Roman aus Edwardianischer Zeit.«

»Das ist eines der Dinge, die ich gerne noch machen würde, solange es noch geht.«

»Was soll denn das alles? Du bist heute wirklich sehr seltsam, richtig zum Fürchten. Das hat doch etwas mit diesem Mayerston zu tun. Das spüre ich.«

»Hör mal«, sagte Hugh, »entweder isst du jetzt das verdammte Sandwich auf und kommst mit mir raus auf den Fluss, oder du gehst heim. Aber hör um Himmels willen auf, mir auf die Nerven zu fallen.«

Hugh war, auch wenn er ihr gegenüber durchaus schon barsch reagiert hatte, im Grunde immer zärtlich mit Hetta umgegangen. Was er eben gesagt hatte, hatte jedoch alles andere als zärtlich geklungen. Da war ein neuer und hässlicher Ton in seiner Stimme, der Hetta einerseits kränkte und andererseits ängstigte. Dennoch schluckte sie ihre Tränen runter, zusammen mit ihrem Salamisandwich, und begleitete Hugh zum Bootshaus neben dem Pub, ohne noch schnell auf die Toilette zu gehen, obwohl sie eigentlich dringend musste.

Um Viertel nach vier war Beyfus in der Großen Ratskammer in voller Fahrt. Der Oberste Quästor hatte seinen Vortrag um halb vier beendet; der Haushalt war verlesen und einstimmig bewilligt worden, und der Provost hatte angeordnet, dass nun über mögliche Verwendungsmöglichkeiten für die überschüssige Summe von einer Viertel Million Pfund beraten werden sollte, auf die in der Erklärung, die sie eben verabschiedet hatten, ausführlich eingegangen worden war. Lord Beyfus hatte sich daraufhin erhoben (über ihm das Porträt von Provost Dawley, der sich, nachdem er eines schönen Morgens des Jahres 1873 seinen Glauben an die Christenheit verloren hatte, kurz nach dem Frühstück des selbigen Tages an der Spitze des Südostturms der Kapelle erhängt hatte) und den Provost um Erlaubnis ersucht, »orationem severiorem exigere« – die Rede ernstlich auszudehnen, das heißt eine längere Redezeit als die üblicherweise vorgeschriebenen fünfzehn Minuten zu beanspruchen. Constable hatte genickt und eingewilligt; Jacquiz hatte jeden in Hörweite darauf hingewiesen, dass Beyfus als Mitglied des Oberhauses sowieso keine besondere Genehmigung brauche; und nun, um Viertel nach vier, kam Beyfus endlich auf die Zielgerade. Oder zumindest hofften das alle.

»… und all diese Überlegungen«, quakte Beyfus, »die mora­lischen, die gesellschaftlichen, die pädagogischen, die räumlichen und die finanziellen, werden in einem umfassenden Ak­tions­plan berücksichtigt, den ich im Folgenden knapp vor­stellen will:

Erstens: Die Errichtung eines Wohnheimgebäudes auf der Scholars’ Meadow für einhundert zusätzliche Studenten, geschätzte Kosten: hunderttausend Pfund.

Zweitens: Die Errichtung eines weiteren Wohnheimgebäu­des auf dem Großen Rasen des Colleges, wiederum für einhundert zusätzliche Studenten, geschätzte Kosten: ebenfalls ungefähr hunderttausend Pfund.«

»Auf dem Großen Rasen des Colleges?«, warf Ivor Winstan­ley in einem Ton ein, in dem sich maßloses Entsetzen über diesen Vorschlag mit so etwas wie Ehrfurcht angesichts der schieren Ungeheuerlichkeit verbanden.

»Ich bin es, der jetzt die Aufmerksamkeit der Ratsversammlung hat«, fauchte Beyfus.

»Aber auf dem Großen Rasen …«

»Es ist Lord Beyfus, der jetzt unsere Aufmerksamkeit hat, Mr. Winstanley«, sagte Constable streng. »Lord Beyfus …«

»Drittens«,...

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