Homeless - Roman

Homeless - Roman

von: Eske Hicken

Edition W GmbH, 2023

ISBN: 9783949671586

Sprache: Deutsch

280 Seiten, Download: 2803 KB

 
Format:  EPUB

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Homeless - Roman



Portland #1


In unserem Amerika gewinnt die Liebe. Es sind Zeiten, in denen man das gar nicht deutlich genug sagen kann. Sehr viele Leute haben sich diese Schilder in die Vorgärten gestellt: In unserem Amerika. Steht darauf. Gewinnt die Liebe. Sind alle Menschen gleich. Und Schwarze Leben zählen. Und Flüchtlinge und Frauen und Menschen mit Behinderungen. Willkommen in Portland, Oregon! Recycling ist hier selbstverständlich, Fahrradfahren auch. Antirassismus gar keine Frage! In den Straßen riecht es nach Weed, Restaurants haben genderneutrale Toiletten und es ist kein Problem, vegan und glutenfrei zu leben. Gleichzeitig. Wir feiern die Vielfalt! Und wer etwas hat, der soll etwas zurückgeben. Auf der Seite der Armen und Unterdrückten zu sein, war immer klar. Es war allerdings nicht klar, dass die Armen und Unterdrückten irgendwann vor der eigenen Haustür auftauchen würden.

Katie: Thanksgiving


Sam ist spät ins Bett gekommen. Er schnarcht. Das ist gut. Ich habe seinen Schlaf in den vergangenen sechs Wochen genau beobachtet und heimlich getestet, und das zu unterschiedlichen Zeiten in der Nacht. Lautes Husten weckt ihn nicht, leicht gegen die Badezimmertür treten auch nicht, mehrmaliges Herumwälzen im Bett manchmal.

Wenn Sam wach wurde, war er jedes Mal sehr, sehr wütend über die Störung seiner Nachtruhe. Manchmal konnte er nicht wieder einschlafen, weil er nicht fassen konnte, was für ein selbstsüchtiger Mensch ich bin, der nicht weiß, was Rücksicht bedeutet. Als ich einmal um 1:45 Uhr etwas lauter gegen die Tür getreten hatte, setzte er sich mit einem Ruck auf. Er packte mich und zerrte mich am Arm durch das Zimmer, zerriss mein Nachthemd, schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass ich mit dem Kopf gegen die Wand stieß, und schloss mich für den Rest der Nacht im Kleiderschrank ein.

Morgen ist Thanksgiving, mein Lieblingsfeiertag, ich werte das als gutes Zeichen. Heute Nacht bin ich weg.

Beschlossen habe ich das vor sechs Wochen. Wir hatten keine Milch mehr. Das war gedankenlos von mir, denn gegen zwei Uhr nachts wollte Sam Cornflakes, aber bestimmt nicht ohne Milch. Und weil er seine Wut darüber nicht ausdrücken konnte, ohne die Nachbarn zu wecken, presste er seine Faust gegen den Kühlschrank. Heftig schnaufend und mit rotem Gesicht, weil er sich innerlich so sehr bremsen musste.

Dann griff er in meine Haare, riss meinen Kopf nach unten, nahm eines der scharfen Messer aus der Schublade und drückte es an meinen Hals. Ich konzentrierte mich auf das Muster des Küchenfußbodens und verhielt mich vollkommen ruhig. Ich weiß, was in solchen Momenten zu tun ist: Sofortige Kooperationsbereitschaft zeigen, nicht bewegen, nichts tun, was als Widerstand gedeutet werden könnte, Fragen umgehend beantworten, möglichst keine Angst zeigen und nicht heulen, auf keinen Fall heulen.

Er rüttelte an meinem Kopf, was das Messer in meinen Hals drückte, sodass ich spürte, wie mein warmes Blut in den Kragen lief. Ich wusste nicht, wie viel Kontrolle er noch über sich hatte. Und ich war mir nicht sicher, ob er mir nicht vielleicht gleich das Messer in die Luftröhre rammen würde.

Und der Küchenfußbodentrick funktionierte nicht. Meine Unterlippe zog sich peinlich zitternd und mit Macht nach unten, Tränen liefen mir aus den Augen. Meine Stimme klang gepresst und leise und weinerlich, als ich sagte: »Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte nicht.«

Ich glaube, dass Sam immer auf den Moment wartete, in dem er meine Angst sehen konnte. Dann entspannte er sich und manchmal erklärte er mir mit sanfter Stimme, dass ich es immer wieder schaffte, ihn bis aufs Blut zu reizen, und dass ich damit aufhören müsse. Jedenfalls schien er für dieses Mal durch zu sein. Er beugte sich zu mir herab, zog mein Gesicht an seines und sagte leise: »Wirst du in Zukunft darauf achten, dass wir Milch im Haus haben, du beschissene Schlampe? Ja?«

Ich nickte schnell – Kooperationsbereitschaft zeigen, Fragen umgehend beantworten –, er schubste mich auf den Fußboden und trat mir mit voller Kraft in den Bauch, was ich nicht mehr erwartet hatte. Er sah mir eine Weile zu, wie ich mich krümmte und dabei versuchte, die am wenigsten schmerzende Körperhaltung einzunehmen. Dann half er mir auf, sagte leise: »Das muss doch alles nicht sein«, und drückte seinen Mund fest auf meine Haare.

Ich nickte. Es war ein guter Moment. Endlich hatte es weh genug getan. Als ich wieder laufen konnte, klebte ich ein Pflaster auf die Stelle am Hals, wickelte ein Tuch darum, legte mich ins Bett und dachte über meine Optionen nach. Hier in Denver zu bleiben, zurück zu meiner Mutter oder zu einem meiner beiden Brüder zu ziehen, kam nicht in Frage. Nicht nur, weil Sam mich dort zuerst suchen würde. So gesehen war Mia die einzige Option. Sie war nach Portland gezogen, um dort zu studieren. Portland war mir immer ein bisschen zu bemüht independent und besonders, aber es war zugegeben auch cool und vor allem war es weit weg. In den ersten Monaten hatte Mia mir Bilder von Hundeyogaklassen geschickt, von Restaurants, in denen es spuken sollte, und von Läden, die Dinge verkauften wie magische Kräuter oder tibetanische Tischdecken. Immer mit ironischen Kommentaren, aber es war offensichtlich, dass es ihr dort sehr, sehr gut gefiel.

Vielleicht könnte ich am Anfang in einem Café arbeiten und mir dann einen richtigen Job suchen. Irgendwas ohne Vorurteile gegen Quereinsteiger mit abgebrochenem Studium. In einem Ökoprojekt, bei einem kleinen Verlag oder in einer Bibliothek. Am nächsten Morgen rief ich Mia an. Sie gratulierte mir, ich konnte an ihrer Stimme hören, dass sie strahlte.

Das ist die Lage. Seit drei Tagen habe ich ein Greyhoundbus-Ticket in der Tasche und einen gepackten Wanderrucksack im Brombeerbusch vor dem Haus versteckt. Ich habe meinen einzigen Hosenanzug eingepackt, ansonsten nur praktische Sachen, die man in Lagen übereinander tragen kann, und 1 000 Dollar, die ich in kleiner Stückelung vom Einkaufsgeld abgezweigt habe; dazu Laptop und Schlafsack. Den Schlafsack hätte ich gern dagelassen, aber Mia schrieb extra, dass sie nur eine Decke besitze. Wahrscheinlich gibt sie ihr Geld immer noch für Kiffen und Klamotten aus.

Meinen Führerschein hat Sam, seit zwei Jahren, ebenso wie meine Kreditkarte, und mein Gmail-Passwort. Ich sagte nichts, ich hatte schon lange vorher eine zweite E-Mail-Adresse und eine zweite Kreditkarte, von der er nichts weiß. Gestern habe ich ein neues Prepaid-Handy für 30 Dollar von Walmart gekauft mit meiner neuen Vorwahl: 503 für Portland.

Der Bus geht frühmorgens. Ich stelle ihn mir vor wie eine Zeitkapsel, ich werde in einem anderen Leben aussteigen. Sam rastet totsicher aus, auch wegen der Miete, er wird seine Mutter anpumpen müssen, er wird die Wohnung allein nicht halten können.

Als es Zeit ist, steige ich sehr vorsichtig aus dem Bett, gehe langsam zur Tür und drücke mit meiner Hand fest gegen den Griff. Aber vielleicht war ich zu heftig, jedenfalls rutscht er mir aus der Hand und springt mit einem lauten Klacken zurück. Das Schnarchen hat aufgehört. Sam hat die Augen geschlossen und den Mund offen. Wäre er aufgewacht, stünde er wahrscheinlich schon neben mir, das muss ich mir sagen. Ich bewege mich nicht. Er dreht sich um, atmet tief.

Zwei Minuten brauche ich, um zur Haustür zu kommen. Jetzt könnte ich noch zurückschleichen, und ich weiß, dass es vollkommen psycho ist, das zu denken. Aber wenn er jetzt in der Tür stehen und sagen würde »Komm zurück«, diese Phantasie habe ich allen Ernstes gerade, dann würde ich kurz zögern.

Ich gehe nicht zurück, weil ich es mir sage. Ich habe Angst und ich fühle mich frei. Auf das Gefühl der Freiheit muss ich mich konzentrieren, die Angst ist auch so da.

Helen: Tofu-Truthahn


Wir sind spät dran. Richard hat etwas gebraucht, bis er sich endlich für Jeans, Sakko und T-Shirt entschieden hat. Eine Kombination, die seine dunklen, angegrauten Haare betont, er sieht darin noch größer aus als er ohnehin schon ist. Und gut, zugegeben wirklich gut. Wenn wir zu meinen Eltern fahren, sucht er immer besonders lange im Kleiderschrank herum. Um Zeit zu schinden. Wahrscheinlich glaubt er, dass ich es nicht merke.

Er hält das Lenkrad fest, schaut auf die Straße und trinkt schweigend Kaffee aus einem Plastikbecher, den er sich unterwegs noch kaufen musste und für den er sich sogar gerechtfertigt hat. Wir haben hübsche wiederverwendbare Bambusbecher zu Hause, ich sage dazu nichts mehr. Ich muss mich schon darauf konzentrieren, diese genervte Stille auszuhalten und mich nicht für die Stimmung im Auto verantwortlich zu fühlen. Es ist Thanksgiving, wir sind auf dem Weg zu meinen Eltern, ich brauche meine Kraft.

Richard ist wie immer schlecht gelaunt. Meine Mutter stresst ihn, sie redet ihm zu viel und sie versucht mit ihm zu flirten, was er noch schlimmer findet.

Kein einziger meiner Ex-Freunde mochte meine Mutter. Sie wäre überrascht, das zu hören. Und so habe ich vor Familienbesuchen immer brummige und schlecht gelaunte Männer im Auto sitzen, seit 13 Jahren Richard.

Ich kann ihn verstehen, und ich halte das Schweigen jetzt doch nicht mehr aus und sage versöhnlich, scherzend, lächelnd: »Letzte Gelegenheit abzuhauen. Noch können wir umdrehen und uns ein schönes Restaurant suchen.«

Schweigen. Früher hätte er meine Hand genommen und die Augenbrauen hochgezogen. Aber dann beugt er sich zu mir herüber, ich denke kurz, dass er mir einen Kuss geben will, einen dieser asexuellen Trostküsse, aber er zieht nur ein Papiertuch aus dem Handschuhfach.

Vor dem Haus meiner Eltern...

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