Die 101 wichtigsten Fragen - Digitalisierung

Die 101 wichtigsten Fragen - Digitalisierung

von: Fabian Geier, Sebastian Rosengrün

Verlag C.H.Beck, 2023

ISBN: 9783406798993

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 753 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die 101 wichtigsten Fragen - Digitalisierung



Digitale Gegenwart


10. Macht die Digitalisierung alles gleich?  Es ist immer ein schöner Vorwurf, anderen – vorzugsweise Jüngeren – vorzuwerfen, sie klebten die ganze Zeit an ihren Geräten. Freilich steckt eine gewisse, vielleicht sogar gewollte Ignoranz in dem Satz. Man schert dabei nämlich all die verschiedenen Aktivitäten und Gefühle, Lernprozesse und Arbeiten, Erholung, Erkundung und das halbe Sozialleben über einen Kamm, das und die durch diese Geräte stattfinden. Wer mit digitalen Werkzeugen aufwächst, kann den Vorwurf daher kaum ernst nehmen, weil er jedes Verständnis für die besondere Realität und Relevanz digitaler Lebensäußerungen vermissen lässt. Mit gleichem Recht könnte man auch sagen, dass jemand tagein, tagaus das gleiche tue, nämlich Arme und Beine bewegen.

Geräte sind natürlich keine Körperteile (auch wenn sie sich manchmal so anfühlen). Der Vergleich macht aber trotzdem zwei Dinge deutlich: Für einen guten Vorwurf muss man erstens auf die richtige Tiefe heranzoomen. Und das heißt einerseits, die Werkzeuge zu ignorieren. So wie man eben irgendwann nur noch «Telefon» sagt und nicht mehr «Smartphone». Das immergleiche Werkzeug verschwindet aus dem Bewusstsein: Wer die Digitalisierung in all ihren Facetten lebt, der muss mit dem Werkzeug und mit der spezifisch defizitären Art eins werden, in der es uns die Welt erschließt – ganz wie auch unsere Arme und Beine mit ihren spezifischen Bieg- und Beugbarkeiten und Reichweitenproblemen unsere verschiedenen Tätigkeiten limitieren und zum Leben erwecken. Es ist dieses Leben, das der Vorwurf ignoriert.

Was nicht heißt, andererseits, dass dieses Leben nicht kritisierbar wäre. Aber dafür brauchen wir bessere und spezifischere Fragen: Was verändert die Digitalisierung im Verhältnis zwischen uns und der Welt? Bringt der digital vermittelte Zugang uns die Welt näher oder entfremdet er uns von ihr? Erlaubt uns das digitale Dasein größere Entfaltung, oder verengen und verdinglichen wir darin nur uns und andere? Werden wir entweder ausgebeutet oder obsolet? Das Internet brachte uns auch die Weisheit: «Nobody on their deathbed ever said: Jeesh, I wish I had spent more time in front of a screen.» Und auf den Bildschirm, den großen Gleichmacher, starren wir ja nun irgendwie alle – Fabrikarbeiter und Lehrer, Chefin und Aktionärin, Buchhalter und Mechatroniker, Zugführerin und Spielführerin. Nur bei Amazon darf man noch laufen. Und bei Deliveroo Fahrrad fahren.

11. Wird uns die Digitalisierung den Job kosten?  Das haben wir den «Futuromaten» gefragt, den das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (als Teil der Agentur für Arbeit) entwickelt hat. Das geht online unter www.job-futuromat.iab.de. Als Philosophen können wir beruhigt sein: Unsere Kerntätigkeiten können mit einer Wahrscheinlichkeit von 0 % – Stand heute – automatisiert werden. Und doch werden wir gewarnt: «ABER: Technologien entwickeln sich weiter, Tätigkeitsprofile wandeln sich.»

Dieser gut gemeinte Hinweis trifft zu, seit es überhaupt Tätigkeitsprofile und ein organisiertes Arbeitsleben gibt. Manche Tätigkeitsprofile fallen sogar einfach weg: Seit es elektrische Straßenlaternen gibt, braucht es keine Laternenanzünder mehr. Seit es Lecksuchgeräte gibt, braucht es keine Gasriecher mehr, die Lecks in unterirdisch verlaufenden Gasleitungen erschnüffeln. Seit es Kreditkarten und Geldautomaten gibt, braucht es keine Schaltermitarbeiter mehr, die Ein- und Auszahlungen für Kunden vornehmen. Perfiderweise gehörte es bis vor kurzem noch zum sich wandelnden Tätigkeitsprofil von Schaltermitarbeitern, Kunden von den Vorzügen jener Techniken zu überzeugen, die das eigene Tätigkeitsprofil überflüssig machten.

Offensichtlich ist auch, dass der Wandel der Tätigkeitsprofile durch die Digitalisierung einen neuen Schub erhielt. Während durch die Industrialisierung und Automatisierung früherer Jahrzehnte vor allem körperliche Arbeiten und repetitive Tätigkeiten durch Maschinen ersetzt wurden, sind zunehmend auch Berufe betroffen, in denen menschliches Urteilsvermögen und Kreativität gefragt sind: Anwälte und Richter werden durch algorithmenbasierte Entscheidungssysteme unterstützt ( 64), journalistische und wissenschaftliche Texte durch Natural Language Processing übersetzt und sogar verfasst ( 70), und soziale Roboter übernehmen zunehmend wichtige Aufgaben in der Kinderbetreuung und Altenpflege.

Ist das schlimm? Gasriecher waren im 19. Jahrhundert ungemein wichtig. Dass seit den 1920er Jahren niemand mehr diese trostlose und gefährliche Tätigkeit ausüben muss, ist aber nichts, das es gesellschaftlich zu bedauern gilt. Menschliche Arbeit durch technischen Fortschritt überflüssig werden zu lassen, wollen irgendwie alle – egal ob Kapitalist oder Kommunist: Für Karl Marx etwa ist die Technisierung des Arbeitslebens wichtiger Teil des utopischen Zustands, in dem niemand mehr arbeiten muss und sich jeder selbst verwirklichen kann.

Gegenwärtig genießen und verdienen einige Berufe gerade deshalb so eine hohe Wertschätzung, weil sie im Zeitalter industrieller Massenherstellung «überflüssig» geworden sind: Niemand «braucht» handgetöpferte Keramik oder handgebackenes Brot. Dennoch sind viele Menschen bereit, mehr für menschliche Handarbeit zu bezahlen. Manchmal hat das mit romantischer Nostalgie zu tun, manchmal ist das Produkt auch qualitativ hochwertiger. Meistens ist beides der Fall.

Auch das Argument, dass durch technischen Fortschritt neue Berufsbilder und dadurch Arbeitsplätze entstehen, ist nicht falsch, wenngleich es künftig etwa für die Entwicklung des autonomen Fahrens und der sozialen Robotik deutlich weniger Softwareentwickler brauchen wird als gegenwärtig LKW-Fahrer und Pflegefachkräfte. Hinzu kommt, dass diejenigen, deren Tätigkeitsprofil von der Digitalisierung besonders bedroht ist, ohne den entsprechenden politischen Gestaltungswillen kaum von den Vorzügen der Digitalisierung profitieren werden und sich – berechtigt oder nicht – von dieser abgehängt fühlen werden.

Roboter- und Maschinensteuer, globale Besteuerung der großen Digitalkonzerne, bedingungsloses Grundeinkommen und ein gleichberechtigter Zugang zu digitaler Bildung sind immer wieder genannte Ideen zur politischen Gestaltung des Wandels auf dem Arbeitsmarkt. Sie werden nicht verhindern, dass manche Jobs überflüssig werden. Sie können aber dazu beitragen, dass sich weniger Menschen davor fürchten müssen. Vor allem aber unterstreichen sie, dass die Auswirkungen der Digitalisierung immer auch im Kontext des jeweilig herrschenden Wirtschaftssystems beurteilt werden müssen (und umgekehrt).

12. Markiert die Digitalisierung eine Zeitenwende?  Vielleicht ist es manchmal etwas überdreht (und immer ein bisschen selbstwidersprüchlich), sich in einem permanenten Ausnahmezustand zu wähnen. Doch Übertreibungen und Klischees gehören dazu: Unsere Zeit ist de facto eine Umbruchphase. Das Leben meines Kindes ist sehr viel verschiedener von dem meines Vaters als dessen Leben von dem seiner Großmutter. Und die damit einhergehende Unsicherheit erklärt die große Nachfrage nach Visionen, Manifesten und Büchern, die uns die Zukunft deuten. Da wird schon mal, wie in Max Tegmarks Life 3.0 oder David Christians Zukunft Denken, über die nächsten Milliarden Jahre spekuliert, was angesichts dessen, wie unvorhersehbar schon Französische Revolution, Holocaust und Internet für einen Menschen des 16. Jahrhunderts waren, recht sportlich ist.

Die Geschichte zeigt, dass Menschen notorisch schlecht darin sind, Voraussagen über ihre eigene Zukunft zu treffen. Für einige Jahrzehnte gelingt es uns gelegentlich: Jules Verne nahm Raumfahrt und Unterseeboote vorweg, Star Trek Tablets, Touchscreens und Videogespräche. Aber das sind technische Vorhersagen, keine geistigen: Nicht umsonst füllt Science Fiction, von Solaris und Star Wars bis zu den Transhumanisten, die hochgerechneten technischen Entwicklungen meist mit den kulturellen Kategorien der Gegenwart.

Der wohl erfolgreichste Erklärer unserer technisch geprägten Zukunft ist Yuval Harari, mit Büchern wie Eine kurze Geschichte der Menschheit, Homo Deus oder 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Den öffentlichen Diskurs bringt er weiter, wenn er z.B. Aufmerksamkeit dafür schafft, dass die Digitalisierung eine neue Gesellschaftsklasse der Nutzlosen erzeugt, oder wenn er im Bereich der KI Bewusstsein von Intelligenz trennt, um zu fragen, was eigentlich passiert, wenn hochintelligente nichtbewusste Maschinen uns besser kennen als wir selbst. Andererseits wirkt...

Kategorien

Service

Info/Kontakt