Wie schwer ein Menschenleben wiegt - Sophie Scholl

Wie schwer ein Menschenleben wiegt - Sophie Scholl

von: Maren Gottschalk

Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN: 9783406790645

Sprache: Deutsch

347 Seiten, Download: 16770 KB

 
Format:  EPUB

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Wie schwer ein Menschenleben wiegt - Sophie Scholl



1.
Stille Rebellion:
Im Reichsarbeitsdienst


Krauchenwies, 27. April 1941. «Heute ist der dritte Sonntag, den ich hier bin. Da ist mir’s so richtig trübselig zumute. Selbst wenn ich es ganz und gar objektiv ansehe, muss ich sagen: hier ist es nicht schön.»[1] Unglücklich schreibt die 19-jährige Sophie Scholl ihrer Freundin Lisa Remppis. Sie ärgert sich, dass ihr Plan, dem sechsmonatigen Reichsarbeitsdienst (RAD) zu entgehen, nicht aufgegangen ist. Aus diesem Grund hatte Sophie nach dem Abitur eine Erzieherinnenausbildung absolviert, denn es hieß, wer einen sozialen Beruf erlerne, würde vom RAD befreit. Aber am Ende ist sie doch gemustert worden, und seit dem 6. April lebt sie im Lager Krauchenwies bei Sigmaringen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Sophie Scholl für mehr als ein paar Wochen aus dem vertrauten Zuhause in Ulm, aus dem Kreis von Familie und Freunden herausgerissen. Genau das ist der Plan der Nazis. Sie rekrutieren mit Hilfe des RAD nicht nur billige Arbeitskräfte, sondern sie richten auch ihre Propagandamaschine auf junge Erwachsene, die aus der Hitlerjugend herausgewachsen sind. «Dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen», hatte Adolf Hitler angekündigt.[2]

Sophie Scholl ist 1941 längst eine Gegnerin des NS-Systems. Sie hasst das geistlose Getöse der Politiker ebenso wie die ständige Bevormundung, und sie verabscheut den Krieg, der jetzt schon fast zwei Jahre währt und aus ihrer Sicht nur sinnlose Opfer fordert. In der geschützten Ulmer Nische konnte Sophie den Krieg zwar nicht aus ihren Gedanken ausblenden, zumal ihr Freund Fritz Hartnagel Soldat ist und auch ihr Bruder Hans und eine Reihe von Freunden immer wieder für Monate Kriegsdienst leisten müssen, aber immerhin lebte sie in Ulm unter gleichgesinnten Menschen, die sich für Musik und Literatur interessieren und mit denen sie sich über religiöse und philosophische Fragen austauschen konnte. Beim RAD hingegen herrscht das geistlose Klima der NS-Zwangsgemeinschaft.

Das «Zivilarbeitslager 501 Krauchenwies» befand sich im Nebengebäude eines heruntergekommenen Schlosses, des ehemaligen Sommersitzes der Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen. 1941 war von der früheren Pracht nur noch die idyllische Lage inmitten eines Parks mit alten Bäumen und einem See geblieben. Die Einrichtung des Lagers war spartanisch. Acht bis zehn «Arbeitsmaiden» teilten sich einen Schlafsaal mit einfachen Stockbetten, unter denen in der Nacht die Mäuse hin und her flitzten. Sophie war froh, ein oberes Bett erwischt zu haben, trotzdem konnte sie in den ersten Nächten wegen der Kälte fast nicht schlafen, denn bis auf das Büro der Lagerleitung waren alle Räume nicht beheizbar. Hungrig war sie auch, denn das Essen – hauptsächlich Pellkartoffeln – war nicht sehr reichlich. Auf dem Gang vor den Schlafräumen standen Spinde, in denen die achtzig jungen Frauen ihre persönliche Habe verstauen konnten.

In den ersten Wochen durften sie das Lager nicht verlassen, sondern wurden für ihren Einsatz im Außendienst gedrillt. Dazu trugen sie RAD-Uniform, blaue Kittelkleider mit weißen Schürzen. Außerhalb des Lagers waren erdbraune Kostüme vorgeschrieben, am Revers steckte eine Brosche mit der Inschrift: «Deutscher Frauenarbeitsdienst – Arbeit für Dein Volk adelt Dich selbst.» Auf das Wecken um 6 Uhr folgten Frühsport, Fahnenappell mit Hitlergruß und gemeinsames Singen. Danach wurden die einen zum Putzen, Waschen oder Bügeln geschickt, andere eilten in die Küche oder den Garten. Am Abend mussten alle zum Unterricht in Erster Hilfe, Hauswirtschaft und nationalsozialistischer Weltanschauung antreten, oder es standen Basteln und Singen auf dem Programm.

«Wir leben sozusagen wie Gefangene, da nicht nur die Arbeit, sondern auch Freizeit zu Dienst wird», schreibt Sophie ihrer Schwester Inge.[3] Erst nachdem die Fahne abends im Beisein der ganzen Gruppe feierlich wieder eingeholt worden ist, dürfen die jungen Frauen bis zum Schlafen ein bisschen private Zeit genießen, Briefe schreiben oder lesen. Für Sophie ist der RAD eine Geduldsprobe, sie ist genervt von der nutzlosen Geschäftigkeit im Lager, wo nichts geschieht außer «Strumpfappell, Zahnglas-Hemden-Handtuchappell» und den eigenen Dreck «zusammenkehren und wieder zerstreuen u. somit nur noch Zeit totschlagen».[4]

Ihr Urteil über die Kameradinnen fällt hart aus: «Ich bin beinahe entsetzt, unter annähernd 80 Menschen nicht einen zu finden, der etwas Kultur hätte», schreibt sie an Lisa:

Es sind wohl Abiturientinnen drunter, die den Faust aus Pietät dabeihaben, sich auch sonst recht kultiviert gebärden, aber alles ist so sehr durchsichtig, so etwas wie ihre Frisur, ihrer eigenen Person zum Schmuck. Der einzige, allerbeliebteste und häufigste Gesprächsstoff sind die Männer. Manchmal kotzt mich alles an. Jetzt zum Beispiel. Deshalb sei so gut und heb diesen Brief nicht länger als einen Tag auf, nicht wahr? Ich verlass mich darauf.[5]

Lisa Remppis hat sich der Aufforderung Sophies nicht gefügt, zum Glück. Denn in den Briefen aus Krauchenwies zeigte die junge Frau eine Seite von sich, die sie sonst lieber verbarg. «Da Du mich nach meiner Belegschaft fragst: […] Kein besonders guter Durchschnitt. Man muss sich in Acht nehmen vor dieser großen Masse. Sie hat in manchen Dingen unheimlich Anziehungskraft. Andererseits ist es oft schwer, nicht ungerecht zu sein.»[6] Sophie wollte sich abseits halten und nicht in diese Gemeinschaft hineinwachsen. «Ich kenne Gott sei Dank niemanden u. hab bis jetzt noch ziemlich meine Ruhe», schrieb sie ihrem jüngeren Bruder Werner, der ebenfalls gerade mit dem RAD begonnen hatte. Die selbstgewählte Isolation gründete nicht nur auf der Ablehnung nationalsozialistischer Werte und der Missbilligung des Jubels über militärische Siege, die abends im Radio verkündet wurden. Sophie konnte sich denken, dass nicht alle Mädchen in Krauchenwies überzeugte Nazis waren, aber sie wollte auch bei ihren harmlosen Aktivitäten nicht mitmachen.

Sophie Scholl (2. v. li.) im Reichsarbeitsdienst, Krauchenwies, Frühjahr 1941

Manche der Frauen, die mit Sophie in Krauchenwies waren, haben vor allem gute Erinnerungen an den Reichsarbeitsdienst, einige bezeichnen diese Zeit sogar als die «unbeschwerteste»[7] ihres Lebens, vor allem diejenigen, die zuvor oder danach in Arbeitsverhältnissen oder familiären Zwängen steckten, die sie mehr einengten als das Lager. Der RAD bot ihnen eine unkomplizierte Gemeinschaft gleichaltriger Frauen, mit denen sie auch über private Probleme sprechen konnten. Deshalb wunderten sich einige über das zarte Mädchen Sophie Scholl, das so ernst und abweisend wirkte. «Ich sah sie selten lachen», erinnert sich Ruth Steinbuch, die zur selben Zeit in Krauchenwies ihren RAD ableistete.[8] Irmgard Hallmann, eine Schülerin aus Ulm betont: «Wir haben auch Spaß dabei gehabt, also wirklich!»[9]

Selbst Sophie gelang es nicht, sich auf Dauer abzuschotten. Nach ein paar Wochen schrieb sie nach Hause, sie habe sich von dem nettesten Mädchen aus ihrem Schlafsaal eine Taschenlampe geliehen, um unter der Bettdecke länger lesen zu können. Auch in der Küche fand sie bald Verbündete, «die mir ab u. zu etwas zukommen lassen».[10] In den Briefen an die Eltern stellte sie die Zeit in Krauchenwies als Herausforderung dar, die sie zu meistern hatte: «Trotz dieser negativen Seiten, die ich da aufgezählt habe, fühle ich mich ganz wohl hier. Und dies dank meinem Wurstigkeitsgefühl, das ich hier noch immer pflege.»[11] Die Taktik, Dinge ungerührt an sich abprallen zu lassen, beherrschte Sophie gut. Sie mochte daher auch nicht die «Modesache» mitmachen und über die Lagerleiterin Fräulein Recknagel meckern, wie es alle andern taten: «Mir tut sie in ihrer Verschrobenheit oft leid. Ich glaube, sie hätte es viel leichter, wenn sie weniger bissig wäre.»[12]

Trotz der munteren Worte: Eltern und Geschwister sorgten sich um Sophie. Inge spürte schon Wochen vor Beginn des RAD, dass die Schwester sich einen Panzer zugelegt hatte: «Es ist oft schwer, gut zu ihr zu sein, weil sie in den letzten Tagen so gleichgültig ist. Aber ich weiß ja, diese Gleichgültigkeit ist nichts andres als Abgeschafftsein.»[13]

Von ihrem älteren Bruder Hans, der in München Medizin studierte und sowohl RAD als auch Wehrdienst hinter sich hatte, bekam Sophie einen Rat: «In drei langen Jahren habe ich gelernt, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden […] So wird sich immer ein Türlein finden, durch das man hinauswitschen kann, für Minuten frische freie Luft atmen kann, auch bei Dir im Arbeitsdienst.»[14] Die jüngere Schwester enttäuschte den Bruder nicht und schrieb ihm, sie finde «das besagte Türlein immer wieder, und außerdem habe ich ein dickes Fell, an dem alles abläuft, was ablaufen soll. Wenn ihr mir Bücher schickt, dafür bin ich auch immer dankbar. Wenn einem der Betrieb bekannt ist, versteht man es, hier und da etwas Privates einzuschieben.»[15] Ein paar Minuten im Park, eine halbe Seite lesen in der Pause, ein Briefchen zwischendurch in Eile verfasst – das waren die kleinen Freiheiten, die Sophie sich herausnehmen konnte.

Bücher und Briefe waren Sophies rettende Inseln im Meer fremdbestimmter, geistloser Tätigkeit, vor allem in den ersten Wochen des Arbeitsdiensts. «Ich rechne meine Zeit immer von Postausgabe...

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