Das Engelsgesicht - Die Geschichte eines Mafia-Killers aus Deutschland. - Ein SPIEGEL-Buch

Das Engelsgesicht - Die Geschichte eines Mafia-Killers aus Deutschland. - Ein SPIEGEL-Buch

von: Andreas Ulrich

Penguin Verlag, 2022

ISBN: 9783641299040

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 5589 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Engelsgesicht - Die Geschichte eines Mafia-Killers aus Deutschland. - Ein SPIEGEL-Buch



1
Ein Mafia-Killer geht in die Falle


Der InterCityExpress surrt mit fast 160 Stundenkilometern von Nürnberg Richtung München. Obwohl es später Vormittag ist, drückt sich Giorgio Basile müde in den gepolsterten Sitz des Erste-Klasse-Abteils. Er ist noch leicht verkatert von der Nacht zuvor, von all dem Kokain und dem Champagner. Er hat nur wenige Stunden geschlafen und noch nicht gefrühstückt. Er bestellt einen Kaffee. Allmählich verfliegt der Kopfschmerz. Er denkt an die vergangenen Tage, und ein Gefühl der Zufriedenheit breitet sich aus. Der Deal in Nürnberg ist gut gelaufen. Die Jungs aus der Familie sind auf Zack. Sie haben einen korrekten Preis bezahlt, sie sind zuverlässig. Das ist wichtig heutzutage, gerade wenn es um Kokain geht.

Der Kokain-Markt in Nürnberg ist weitgehend unter Kontrolle seiner Leute aus Corigliano im süditalienischen Kalabrien, und sie zahlen pünktlich. Die Reise nach Deutschland hat sich erwartungsgemäß gelohnt. Ein Kinderspiel, wie immer, trotz der falschen Papiere, die er bei sich trägt. Gott schütze das vereinte Europa. Die seltenen Passkontrollen an der Grenze machen ihm keine Sorgen. Den Namen in seinem italienischen Ausweis kann er im Schlaf sagen: Aldo Valeone, geboren am 15. Februar 1960 in Acri, Vater Michele, Mutter Giuseppina, zwei Brüder, drei Schwestern. Das Papier ist deshalb so gut, weil es echt ist. Es gehört seinem Freund aus Mülheim, wo Giorgio aufgewachsen ist. Nur das Foto haben sie ausgetauscht, unten in Neapel, bei einem Typen, der die echten, amtlichen Stempel hat und der ihm einen Gefallen schuldig war.

Ein paar solcher Fahrten noch, von Italien nach Holland und zurück über Deutschland oder Frankreich – dann will er sich erst einmal ein paar Wochen zurückziehen. Gras wachsen lassen über all die Dinge, die in den vergangenen Monaten passiert sind: die vielen Toten, die Ermittlungen, die Verhaftungen. All die Lügen und Intrigen, die sich wie ein Netz immer enger um ihn zusammenzogen und die ihn nun allmählich zu ersticken drohen. Er ist einer der wenigen Männer der Organisation aus Corigliano, die noch in Freiheit sind. Und das soll nach Möglichkeit auch so bleiben. Aber solange die Geschäfte laufen, müssen sie auch abgewickelt werden. Magere Zeiten kommen von ganz allein.

Das Wetter ist gut an diesem Sonnabend. Es ist sonnig, die Temperatur ist angenehm mild. Ein paar Wolken hängen träge am blauen Himmel. Bald wird Giorgio wieder bei seiner Frau Lucia sein, der ersten Frau, die er wirklich liebt, die er haben wollte, seit er sie zum ersten Mal gesehen hat, und die er dann heiratete, so schnell es ging. Von der er sich ein Kind wünschte, und die nun in der Toskana mit ihrer kleinen Tochter Schiavonea auf ihn wartet. Er freut sich auf einen schönen, langen Sommer mit ihnen am Meer.

Giorgio fährt meistens mit dem Zug, wenn er geschäftlich unterwegs ist. Er findet, das ist das sicherste Verkehrsmittel, wenn man mit falschen Papieren reist. Außerdem hat Aldo Valeone, sein Cousin, keinen Führerschein. Er ist Musiker und meint, er brauche kein Auto. Pech für Giorgio, aber kein wirkliches Problem. Im Zug kann er wunderbar entspannen, und er nutzt die Zeit gern zum Nachdenken. Er schließt die Augen und versucht, die kurze Fahrt von Nürnberg nach München zu genießen.

Als der Zug sich München nähert, muss er zusehen, dass er langsam wieder klar wird. Bevor er zurück nach Italien fährt, will er noch einen Abstecher in ein Kaff in der Nähe von Kempten im Allgäu machen. Antonio, der dort eine Pizzeria betreibt, schuldet ihm noch fünfzehntausend Mark, die will er abholen. Das Geld ist sein Anteil an der Eisdiele, die Antonio dort einst mit seiner Hilfe aufgemacht hat. Der Preis ist wahrscheinlich zu niedrig angesetzt, aber das spielt jetzt keine Rolle. Es ist so abgemacht, und Giorgio braucht das Geld. Er ist mehr oder weniger auf der Flucht. Und Antonio ist einverstanden: Das Geld, hat er gesagt, liege bereit. Vielleicht ist er sogar froh, denkt Giorgio, dass er mich als Teilhaber loswird. Er selbst jedenfalls wäre froh gewesen.

Beim Einlaufen des InterCityExpress in den Münchner Kopfbahnhof steht Giorgio auf, verlässt das Abteil und steigt aus. Er hat kaum Gepäck bei sich, nur einen kleinen braunen Koffer mit ein paar Kleidungstücken. Das Geld aus dem Drogengeschäft, vierzigtausend Mark, hat er in Nürnberg bei einem Freund der Familie in einem sicheren Versteck gelassen. Bloß kein Risiko eingehen. Er schlendert zum Schalter in der Bahnhofshalle, vorbei an der Gepäckaufbewahrung und dem Tabakladen, und löst eine Karte nach Kempten, erster Klasse, wie immer, einfache Fahrt.

Welchen Weg er zurück nach Italien nehmen wird, will er erst entscheiden, wenn er das Geld in der Tasche hat. Vielleicht wird Antonio ihn über die Grenze nach Österreich bringen, und er wird dort den Zug nach Italien besteigen, oder er wird eben nach München zurückfahren und von dort weiter nach Florenz reisen. Bis zur Abfahrt bleibt ihm noch eine gute Stunde. Er schlendert über den Bahnhof, stellt sich an den nächsten Imbiss und verlangt eine Bratwurst. Giorgio Basile liebt Bratwurst.

Er ist zwar Italiener, aber im Ruhrgebiet aufgewachsen. Er mag viele Dinge, bei denen sich seinen Landsleuten vermutlich der Magen umdreht: Frikadellen zum Beispiel oder Rouladen mit Klößen und brauner Soße. Ruhrpottküche eben. Und Bratwurst. Er schluckt den letzten Bissen hinunter, wirft die leere Pappe weg und bestellt gleich noch eine Wurst.

Langsam wird es Zeit. Er nimmt seinen Koffer und geht los. In seinen Socken stecken ein paar Gramm Kokain, aber sonst wirkt er wie ein ganz normaler Reisender. Er ist nicht groß, 1,65 Meter vielleicht, nicht gerade schlank, eher kräftig gebaut. Er trägt kurze, dunkle Haare und eine Brille mit ovalen Gläsern in einem Metallgestell, und wenn er redet, lacht er oft – ein sympathischer, unauffälliger Mann. In Italien nennen sie ihn deshalb das Engelsgesicht. Alter und Nationalität sind schwer zu schätzen. Er könnte Student sein, Bankangestellter oder amerikanischer Tourist. Er fällt absolut nicht auf.

Giorgio geht die Halle entlang zu den Nebengleisen, wo die Regionalzüge fahren – wie der nach Kempten. Auf dem Weg dorthin sieht er eine Telefonzelle, und ihm schießt plötzlich der Gedanke durch den Kopf, Antonio anzurufen. Er weiß auch nicht, warum, es ist eine Art Eingebung. Nach einem kurzen Augenblick beruhigt er sich wieder. Es ist alles mit Antonio besprochen, und die Fahrt bis Kempten dauert immerhin eineinhalb Stunden. Zeit genug. Er klettert in den Zug, der sich bald darauf in Bewegung setzt.

Beim ersten Halt in Pasing, kurz nach der Abfahrt in München, steigt kaum jemand zu. Allmählich werden die Häuser kleiner und es werden immer weniger. Der Zug rattert eine halbe Stunde einschläfernd dahin, bevor er in Kaufering Halt macht. Giorgio schaut aus dem Abteilfenster und blickt direkt auf eine Telefonzelle. Wieder überkommt ihn ein Gefühl von Unruhe. Ich sollte doch lieber anrufen, durchfährt es ihn. Giorgio springt aus dem Zug, läuft zur Telefonzelle, doch der Automat nimmt kein Geld, nur Karten.

Verfluchter Fortschritt, denkt Giorgio und klettert zurück in den Waggon. Langsam rollt der Zug wieder an und nimmt Geschwindigkeit auf. Flaches Voralpenland fließt am Fenster vorbei, grüne Weiden und Felder, vereinzelte Wälder, ein paar Bauernhöfe, hin und wieder eine Kapelle oder ein Wegkreuz. Giorgio wird wieder ruhiger. Es wird schon alles gut gehen, sagt er sich. In Buchloe, dem nächsten Halt, fällt Giorgios Blick wieder auf eine Telefonzelle. Doch irgendetwas hält ihn davon ab, auszusteigen und es erneut zu versuchen.

Der Italiener macht es sich im Sitz bequem, döst, blinzelt in die Sonne, denkt an Lucia und die kommenden Wochen. Der Bungalow, in dem sie den Sommer verbringen wollen, gehört einem Freund in Genua, und der hat ihnen angeboten, dort so lange zu bleiben, wie sie es wünschen. Giorgio freut sich auf eine schöne Zeit. Die Ruhe wird ihm gut tun.

Er geht in den Speisewagen und bestellt eine Kartoffelsuppe. Es ist eine Fertigsuppe aus der Tüte, wie er bei der Zubereitung sehen kann, und sie schmeckt überhaupt nicht. Lustlos isst er ein paar Löffel, lässt den Rest stehen und geht zurück zu seinem Platz. Als der Zug Kaufbeuren passiert, entscheidet Giorgio endgültig, erst von Kempten aus bei Antonio anzurufen. Dann ist immer noch Zeit genug.

»In wenigen Minuten erreichen wir Kempten«, plärrt die Zugbegleiterin aus dem Lautsprecher, und die Stimme klingt wie eine Erlösung. Giorgio steht auf, packt seinen Koffer und stellt sich am Ende des Waggons an den Ausstieg. Als der Zug hält, drückt er die Klinke der Waggontür hinunter und steigt die drei Stufen hinab zum Bahnsteig.

Es ist früher Nachmittag. Sein Blick gleitet über den Bahnhof, streift Häuser und Wiesen vor der Kulisse der Allgäuer Alpen, die mächtig in der Ferne thronen. Sie erinnern Giorgio Basile an die Berge seiner Heimat, die bis weit in den Frühling mit Schnee bedeckt sind und in denen sich die flüchtigen Mafiosi, die Latitanti, vor der Polizei verstecken.

Als der Zug wieder anfährt, setzt auch Giorgio sich in Bewegung. Er geht die Treppe hinunter und wendet sich im Tunnel Richtung Bahnhofshalle. Dort kauft er als Erstes eine Telefonkarte und sucht eine Zelle. Er zieht die Tür auf, stellt den Koffer auf den Boden und wählt Antonios Nummer.

»Ciao, wie geht’s?«, sagt Giorgio.

»Bist du schon angekommen?«, fragt Antonio.

»Willst du mich abholen, oder soll ich kommen?«

»Hier gibt es Probleme«, stöhnt Antonio.

Giorgio ist überrascht: »Was für Probleme?«

Sein Landsmann scheint...

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