Was ich nie gesagt habe - Gretchens Schicksalsfamilie - Roman | Authentisch, eindringlich, emotional - Toms und Gretchens Geschichte geht weiter!

Was ich nie gesagt habe - Gretchens Schicksalsfamilie - Roman | Authentisch, eindringlich, emotional - Toms und Gretchens Geschichte geht weiter!

von: Susanne Abel

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2022

ISBN: 9783423441117

Sprache: Deutsch

560 Seiten, Download: 1036 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Was ich nie gesagt habe - Gretchens Schicksalsfamilie - Roman | Authentisch, eindringlich, emotional - Toms und Gretchens Geschichte geht weiter!



ZWEI. Mai 1933–Juli 1943


»Krraaab, krraaab, krraaab«, krächzte der Rabe auf der Thuja hinter dem Pfarrer, der den blumengeschmückten Sarg mit Weihwasser besprengte. »Krraaab, krraaab, krraaab.«

Der fünfjährige Konrad sah, wie der Vogel hinter einer Weihrauchwolke verschwand.

»Wir bitten dich, Gott. Komm Wilhelm Monderath mit deiner Liebe entgegen und nimm alle Schuld von ihm«, sagte der Priester, und dann sah Konrad, wie sechs Männer sich gleichzeitig nach den Tauen bückten, die unter dem Sarg hindurchliefen, sie anzogen und ihn langsam in das Erdloch hinabließen.

»Krraaab, krraaab, krraaab.«

Als die Männer die Seile hochgezogen hatten und nach einer Verbeugung zur Seite gegangen waren, trat Konrad, der von allen Conny genannt wurde, mit seiner Mutter und seinem zwölfjährigen Bruder Franz einen Schritt vor, griff wie sie in das aufgeschüttete Erdreich und warf eine Handvoll ins Grab. Dann noch eine. Es klang hohl, als die Erde auf das Holz aufschlug. Conny konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater jetzt da unten in dieser Holzkiste lag, obwohl er gesehen hatte, wie über ihm der Sargdeckel geschlossen und dann zugeschraubt worden war.

»Krraaab, krraaab, krraaab.« Der Weihrauch war verflogen, und der Rabe breitete die Flügel aus, flog tief eine Runde über der schwarz gekleideten Trauergemeinde und stieg dann in die Lüfte.

Zitternd drückte Conny die Hand seines großen Bruders und hielt sich an ihm fest, sonst wäre er vielleicht auch weggeflogen. Geflohen. In den Himmel, wo sein Vater jetzt eigentlich war, wie ihm die Oma erzählt hatte. Verstohlen blickte Conny nach oben. Aber da war nicht einmal eine Wolke zu sehen, auf der Pap hätte sitzen können.

 

»Was haben wir für ein Glück, so eine Weitsicht hat man nur selten.« Das hatte sein Vater am Samstag gesagt. Am Samstag! Und jetzt war er nicht mehr da. Dabei war der Samstag erst vor vier Tagen gewesen.

Pap hatte Conny mit zum Dom genommen, zu einem Termin, den er mit dem Dombaumeister gehabt hatte.

»Das ist mein Jüngster«, hatte Pap ihn dem Chef vom Dom vorgestellt.

Und oben, in fünfundvierzig Meter Höhe auf der Dachgalerie, hatte Conny durch die steinerne Brüstung hindurchgeschaut und zwischen den kleinen Spitzbögen auf das Häusermeer geblickt, die vielen Kirchtürme bewundert und begeistert ausgerufen: »Köln ist die schönste Stadt von der ganzen Welt!«

Pap streichelte ihm lachend über den Kopf und antwortete: »Und eine der ältesten Deutschlands. Deine Vaterstadt.« Dann zeigte er in den Kölner Süden, wo sie wohnten. Ganz nahe am Rhein, von dem Conny sicher war, dass er der größte Fluss von der ganzen Welt war.

»Hast du den Dom auch gebaut, Pap?«, fragte Conny, denn sein Vater war Architekt. Der beste von der ganzen Welt.

Pap lachte und meinte, dass der Dom schon vor vielen hundert Jahren errichtet worden war, lange vor seiner eigenen Geburt.

Sicherlich war der Dom die allerälteste Kirche von allen. Auf der ganzen Welt.

»Und siehst du da hinten das Siebengebirge?« Wilhelm Monderath zeigte auf eine Gebirgskette am Horizont.

Conny stellte sich auf die Zehenspitzen, den Hals gestreckt, und zog sich an der steinernen Brüstung hoch, aber er konnte trotzdem nicht darüberblicken. Da nahm sein Vater ihn auf den Arm, und jetzt konnte auch Conny sehen, was er gemeint hatte.

»Von dort kommen die Steine, mit denen man den Dom gebaut hat«, sagte er. Conny erkannte die Hügel und sog den warmen Pap-Duft aus Nadelholz und Zigaretten in sich auf. Später, das nahm er sich vor, wollte er einmal so groß sein wie sein Pap, denn dann würde er den besten Überblick haben. Von allen.

»Wie viele Hügel sind das?«, fragte Pap, und Conny zählte sie. Laut. Bis fünf, denn die anderen Zahlen kannte er noch nicht.

»Sechs. Und. Sieben«, ergänzte Pap und erklärte ihm anschließend, wie die Berge entstanden waren. »Vor langer Zeit, lange bevor es den Dom gab, staute sich das Wasser im Rhein und konnte nicht weiterfließen. Da kamen sieben Riesen und schaufelten das Flussbett frei. Und als sie mit ihrer Arbeit fertig waren, klopften sie ihre Spaten auf den Boden, damit sich der Dreck löste. Die Dreckklumpen, die abfielen, kann man heute noch sehen. Sieben Stück.«

Der Herr Dombaumeister wollte Pap etwas zeigen. Deshalb gingen sie weiter und stiegen immer höher bis auf die siebzig Meter hohe Aussichtsplattform des Vierungsturmes. Conny konnte kaum atmen, weil es so schön war. Eine Möwe segelte im Wind. Er blickte ihr nach und entdeckte auf den Tabernakeln der Turmobergeschosse überlebensgroße Engel. Sie musizierten.

»Das sind Friedensengel«, erklärte sein Pap ihm. »Sie wachen über die Stadt.«

Da spürte Conny, dass ihm in Köln niemals etwas passieren würde.

Auf der Rückfahrt durfte er im Auto vorne sitzen, wie immer, wenn er mit Pap allein unterwegs war.

»Wenn du willst, können wir bald mal einen Ausflug ins Siebengebirge machen«, sagte sein Vater und gab Gas.

»Sind die Riesen weg?«, fragte Conny, denn er hatte Angst vor ihnen.

Normalerweise gingen er und sein Bruder Franz nach dem Abendbrot immer auf ihr Zimmer, um vor dem Zubettgehen noch ein wenig zu spielen. Aber an diesem Samstag meinte ihre Mutter, dass sie sitzen bleiben sollten, weil sie eine Überraschung hätte. Conny liebte Überraschungen und schaute sie erwartungsvoll an.

»Ihr bekommt noch ein Geschwisterchen«, sagte seine Mam strahlend.

Und so wie Pap schaute, wusste er es bereits.

»Ich will dann aber ein Schwesterchen«, rief Conny, und alle lachten.

»Ich will auch ein Mädchen!« Sein Vater legte den Arm um Mam und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Mal sehen, was der Klapperstorch bringt«, antwortete sie.

»Wenn es ein Mädchen wird, dann soll sie auf jeden Fall Lizzy heißen«, meinte Pap und bat Franz, das Grammofon anzuwerfen. Dann tanzte er mit Mam, die immer noch ihre Schürze umhatte, zum Schlager von Willi Ostermann Walzer und sang lauthals mit: »Einmal am Rhein und dann zu Zwei’n alleine sein.«

Mit dem Lachen seiner Eltern aus dem Nebenzimmer und der Überlegung, woher der Klapperstorch die Kinder bekam, schlief Conny ein.

Am nächsten Morgen zerfetzte ein Schrei seine Träume. Innerhalb von Sekunden standen er und Franz dort, woher das Schreien gekommen war: im Schlafzimmer ihrer Eltern. Conny sah, wie sein Vater auf dem Rücken lag. Mit offenem Mund, sein Gesicht war dunkelblau. Die Mutter schüttelte ihn heulend und flehte, er möge zurückkommen. Aber Pap reagierte nicht und hatte die Augen so komisch offen. Auch Franz sprang auf das Bett und schüttelte seinen Vater ebenfalls, schrie und weinte. Wie gelähmt stand Conny in der Tür und vergaß zu atmen.

Stumm beobachtete er, wie immer mehr Menschen in die Wohnung kamen. Nachbarn. Leichenbeschauer. Verwandte. In der Stube wurde das Grammofon zur Seite geräumt und auch der Tisch, damit in der Mitte Platz war für den Sarg, in den sie seinen Vater gebettet hatten, den Rosenkranz um die weißen Finger gelegt. Die Fensterläden wurden verschlossen, Stühle rund um den Sarg gestellt und Kerzen angezündet.

Großmutter Helene kam aus Lindenthal und beweinte ihren Sohn. Stundenlang. Als sie ging, sagte sie zu Mam: »Ich habe selbst zwei Männer verloren.« Ihren Enkeln schaute sie beim Abschied tief in die Augen. »Ihr müsst jetzt tapfer sein.«

»Ja«, sagte Franz.

Conny nickte und hielt die Luft an, denn er mochte Großmutter Helenes Atem nicht, der immer nach Veilchenpastillen und Zwiebeln roch.

Dass sie tapfer sein sollen, sagten auch Oma Katring und Opa Max, die zu Fuß die zwei Kilometer aus dem Färberviertel gekommen waren. Und als sie aufbrachen, ermahnten sie Franz, dass er jetzt auf seine Mutter aufpassen müsse. Und auf den kleinen Bruder.

Dann kamen die vier Geschwister von Mam. Nach und nach. Blass und erschrocken. Aus ganz Köln. Auch sie meinten, die Jungen sollten tapfer sein.

Am Morgen vor der Beerdigung war auch Heinrich, der Bruder des Vaters, den alle nur Drickes nannten, angereist. Extra aus Berlin. Er schaute sich den toten Wilhelm lange an. Mit seinen geröteten Augen, die seine dicken Brillengläser vergrößerten. Dann legte er den Arm um Mam, ging mit ihr ins Nebenzimmer, und Conny hörte, wie seine Mutter weinte und etwas von Umständen sagte.

Jetzt war er allein mit seinem Vater. Zum ersten Mal, seit dieser sich nicht mehr bewegt hatte und so seltsam aussah. »Pap«, flüsterte er.

Doch sein Vater reagierte nicht. Er roch auch anders als sonst. Nach Apotheke. Zaghaft berührte Conny die bleichen Hände und erschrak, weil sie kalt waren – und hart. »Pap«, flüsterte er ein weiteres Mal.

Und als er wieder nicht antwortete, legte sich graue Schwere über Conny, die alle Farben erstickte.

»Wir müssen uns fertig machen«, sagte Franz am Morgen der Beerdigung, und dabei überschlug sich seine Stimme. Wie öfter in letzter Zeit. Er knöpfte Conny den Matrosenanzug zu und zog ihm einen geraden Scheitel durch sein Haar. Dann stopfte er sich das Braunhemd des deutschen Jungvolks in seine kurze Hose, nahm Conny bei der Hand und ging mit ihm und Mam durchs Treppenhaus. Die Aufwartefrau kehrte die Treppe und schaute nicht mürrisch wie sonst, denn heute waren sie etwas Besonderes: die Kinder, die jetzt keinen Vater mehr hatten.

Unten auf der Straße hatte Onkel Drickes die Tür zu seinem Mercedes 260 aufgehalten, Franz und Conny waren nach hinten geklettert, und ihre Mam hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Und so waren sie aus der Kölner Südstadt herausgefahren, über die Ringe, auf denen das geschäftige Treiben weitergegangen war, als wäre dies ein Mittwoch wie...

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