Afghanistan - Unbesiegter Verlierer

Afghanistan - Unbesiegter Verlierer

von: Natalie Amiri

Aufbau Verlag, 2022

ISBN: 9783841229151

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 3468 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Afghanistan - Unbesiegter Verlierer



1 Einleitung


»Wenn du dich jemals nutzlos fühlst, dann erinnere dich daran, dass es 20 Jahre brauchte, Billionen von Dollar und vier US-Präsidenten, um die Taliban durch die Taliban zu ersetzen.« Dieser Satz, der nach dem schmachvollen und desaströsen Abzug des Westens aus Afghanistan im August 2021 in den sozialen Medien kursierte, kommt mir oft in den Sinn. Er ist zynisch, zugegeben, aber in seiner Simplizität sehr richtig. Auch wenn ich mit diesem Zitat beginne, ist dieses Buch dennoch kein zynisches geworden. Vielmehr ein Versuch, Afghanistan zu verstehen, ein Porträt der Gesellschaft zu zeichnen, aufzuzeigen, was bei der Politik des Westens in den letzten Jahrzehnten falsch lief und wie es um die Rechte der Afghaninnen und Afghanen nach der Machtübernahme bestellt ist.

Afghanistan ist ein Land, das nie zu der Einheit zusammenwachsen konnte, die ein Vielvölkerstaat braucht, damit in ihm Frieden herrscht. Verantwortlich dafür sind seine sehr komplexe Bevölkerungsstruktur, eine desolate Wirtschaft, eine patriarchalische Gesellschaft, eine gelebte islamische Alltagswelt und korrupte Politiker. »Nation Building« war eine der Parolen für den Aufbau Afghanistans, nachdem man 2001 siegestrunken die Taliban verscheucht hatte. Sie verschwanden, aber nur von der Oberfläche. Hätte man Afghanistan in seiner Ganzheit gesehen, hätte man wissen können, dass »Nation Building« kein einfacher Prozess und, wie in Afghanistan umgesetzt, auch ein erfolgloser sein würde. Es war die Afghanistanpolitik Washingtons und seiner Verbündeten, die das Land im Herbst 2021 erneut als Verlierer zurückließ. Sie wirkte insbesondere deshalb verheerend, weil nie klar war, welche Ziele die Amerikaner und mit ihnen die internationale Staatengemeinschaft überhaupt verfolgten. Waren sie Retter? Feind? Freund?

Ich bereiste Afghanistan mehrere Male, in der Zeit, als noch Hoffnung und Aufschwung herrschte. Für die Recherche dieses Buchs beantragte ich im Mai 2021 erneut ein Visum, ein Touristenvisum. Ich dachte, wenn ich ohne Kamera unterwegs bin, wäre es einfacher, auf diese Weise durchs Land zu kommen. Unauffälliger. Ich kaufte mir eine große Landkarte, zeichnete dort die Reiserouten ein, auf denen ich abermals das Land erkunden wollte. Mein Plan war es, am 11. September 2021 in Kabul zu landen. An diesem Tag sollte wie von US-Präsident Joe Biden angekündigt der Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan abgeschlossen sein. Ich hatte ja keine Ahnung, wie schnell die Taliban das Land erobern würden, noch lange vor dem 11. September.

Ich horchte erstmals auf, als im April Annegret Kramp-Karrenbauer in den Nachrichten sprach. Deutschland werde dafür sorgen, dass jede Ortskraft, jeder, der mit Deutschland zusammengearbeitet habe, inklusive seiner Familie, nach Deutschland geholt werden würde, so die damalige deutsche Verteidigungsministerin. Und weiter: »Wir reden hier von Menschen, die zum Teil über Jahre hinweg auch unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit an unserer Seite gearbeitet, auch mitgekämpft haben und ihren persönlichen Beitrag geleistet haben. Ich empfinde es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen.« In mir stiegen gleich Zweifel auf, und ich dachte mir: So wird es nicht passieren. Die NATO hatte kurz zuvor entschieden, den Abzug aus Afghanistan bis zum 1. Mai einzuleiten. Ihre Truppen verließen im Juni das Land, die Bundeswehr auch, räumte Stützpunkte, alles wirkte gehetzt. Als hätte man es kaum erwarten können. Der Krieg war für den Westen beendet. Seit Mai eroberten die Taliban das Land zurück. Distrikt für Distrikt. Und übernahmen Mitte August auch in Kabul die Herrschaft.

Sahar, eine selbstständige und emanzipierte Frau, die im Sommer 2021 ein Restaurant in Kabul eröffnen wollte und der ich in diesem Buch zwei Kapitel widme, sagt mir über diese Zeit: »Meine Freunde warnten mich schon vor Jahren: ›Wenn die Amerikaner gehen werden, dann wird es vorbei sein mit unserer Freiheit.‹ Ich habe es nicht geglaubt, ich dachte, wir hätten unsere eigenen Sicherheitskräfte; die würden die Taliban schon stoppen. Als die Taliban immer näher an Kabul rückten, war ich immer noch der Überzeugung, dass sie von irgendjemandem aufgehalten würden. Ich habe 60 000 Dollar in mein Restaurant investiert, das am 15. August eröffnen sollte. Wäre ich davon ausgegangen, dass die Taliban wirklich unser Land einnehmen, hätte ich diese Investition nicht getätigt. Ich konnte es einfach nicht fassen, hatte die Taliban noch nie aus der Nähe gesehen. Wir trafen uns täglich mit Freunden, die Taliban rückten näher, und wir saßen zusammen und weinten, wollten aber unbedingt daran glauben, dass das Unvermeidbare nicht eintritt. Am 15. August sollte es eine große Eröffnungsfeier für mein Restaurant geben. Die Nacht davor deckte ich noch alle Tische ein.«

Afghanistan sollte 2001 demokratisiert werden, nach westlichem Vorbild. An diesem Vorhaben ist der Westen katastrophal gescheitert. Eine Demokratisierung muss auf funktionierenden Institutionen aufbauen, doch die hat es in Afghanistan nie gegeben. Zwar führte man Wahlen durch, doch die waren von Vetternwirtschaft und Korruption geprägt. Man strebte eine Neukalibrierung der Gesellschaft an, ohne die Gesellschaft verstanden, ja, sich überhaupt mit ihr beschäftigt zu haben. Und man gab eben dieser afghanischen Bevölkerung auch noch das fatale Signal, Ergebnisse von Wahlen würden verändert, wenn es im Interesse der Amerikaner liegt. Und das passierte nicht nur einmal.

In erster Linie ging es der amerikanischen Regierung nicht um »Nation Building«, sondern um geopolitische Interessen und Vergeltung für den 11. September 2001 – den Tag, an dem die USA den schlimmsten Terroranschlag in ihrer Geschichte erlebten, der die Welt in eine neue Epoche katapultierte. Sie kam mit einem Ziel. Für den Rest hatte sie keinen Plan.

Nationenbildung braucht eine »kulturelle Identität« in einem geographischen Raum, heißt es laut Definition. Doch gibt es so eine gemeinsame kulturelle Identität in Afghanistan? Das Land besteht aus Dutzenden verschiedener Ethnien – das sind Gruppen von Menschen, denen eine kollektive Identität zugesprochen wird, wobei Herkunftssagen, Abstammung, Geschichte, Kultur, Sprache, Religion, die Verbindung zu einem spezifischen Territorium sowie ein Gefühl der Solidarität als Zuschreibungskriterien dienen können. Die Angaben darüber, wie viele Ethnien es genau sind, schwanken. Mehr als 30 verschiedene Sprachen sind nachgewiesen. Die zwei wichtigsten und von den meisten gesprochenen sind Dari, eine Variante des Farsi, und Paschtu die Sprache der Paschtunen. Beide Amtssprachen. Das einzige die Gesellschaft verbindende Element ist der Islam, und auch hier gibt es die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten. Aus dieser werde sich der nächste Großkonflikt in Afghanistan ergeben, sagt mir ein Freund in Kabul. Die afghanische Gesellschaft kennzeichnet also keine gemeinsame kulturelle Identität. Sie ist vielmehr eine von der Dominanz einzelner Ethnien geprägte, von vielen verschiedenen Machtzentren gesteuerte, zusammengeflickte Gesellschaft.

Ich fragte eine Bekannte in Afghanistan, ob ein wesentliches Problem für die Instabilität ihres Landes darin liege, dass es in Afghanistan keine verbindenden Elemente gebe, die zur Bildung einer Nation notwendig sind. Und ich fügte hinzu, dass ich deshalb überlegte, ob sich »Land ohne Nation« als Titel für mein Buch eignete. Sie antwortete höflich, aber bestimmt: »Vielleicht schreiben Sie lieber: das Land der Stämme oder Clans. Denn diese bestimmen unsere Struktur im Land. Jeder Volksstamm ist anders und alle sind voneinander getrennt. Wenn Sie schreiben ›ohne Nation‹, könnte es bei einigen Empfindlichkeiten wecken. Ich sage es Ihnen nur deshalb, damit Sie nicht kritisiert werden. Schreiben Sie lieber, es ist ein Land der Stämme.« Und dann erhalte ich noch eine Nachricht von ihr: »Aber eigentlich haben Sie recht: We did not become a nation.«

»Sehen Sie den Nagel dort an der Wand, dort hing das Bild von Präsident Ashraf Ghani«, erzählt mir der afghanische Botschafter im Oktober 2021 in Berlin. Ich beantrage gerade erneut ein Visum, dieses Mal ein Business-Visum. Unter der Herrschaft der Taliban möchte ich nicht mehr inoffiziell einreisen, dieses Mal hole ich mir auch die Erlaubnis des Media Office...

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