Erst der Regen verzaubert das Licht - Roman

Erst der Regen verzaubert das Licht - Roman

von: Liane Wilmes

Aufbau Verlag, 2022

ISBN: 9783841229465

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 511 KB

 
Format:  EPUB

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Erst der Regen verzaubert das Licht - Roman



Kapitel 1

Vor zwölf Monaten


Als wäre das hier ein Bruce-Springsteen-Konzert und keine Beerdigung. Jeder Platz war besetzt, und trotzdem drängten immer mehr Menschen durch die weit geöffneten Türen ins Innere der hübschen, weiß getünchten Kapelle.

Das Wetter war dem Anlass entsprechend stürmisch, grau und viel zu kalt für diese Jahreszeit. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern, zum Verstummen gebracht von hängenden Köpfen, Tränen und allzu blendend weißen Regenschirmen. Auf dem kopfsteingepflasterten Platz vor der Kirche fröstelte ich in meinem dünnen hellen Trenchcoat und hakte mich bei Paul unter, dankbar, dass er bei mir war. In den vergangenen fünf Tagen war er mir nicht von der Seite gewichen, als ich wie in Trance Sarg, Friedhof und Kirche ausgewählt, den Ablauf der Trauerfeier organisiert, Blumenschmuck bestellt und ein Restaurant für den Trauerkaffee reserviert hatte. Dabei hatte ich nichts lieber gewollt, als regungslos aus dem Schlafzimmerfenster zu starren und mich meinen Erinnerungen hinzugeben. Ich betrachtete Pauls feines Profil, das dem seines Vaters so ähnlich war. Für die Beerdigung war er extra zum Friseur gegangen, um seine dichten dunkelblonden Haare stutzen zu lassen.

»Himmel, wo kommen all die Leute her? Pius hat sich wirklich viele Freunde gemacht«, bemerkte meine alte Freundin Bine und strich fürsorglich einen imaginären Krümel von meinem Ärmel. »Habt ihr gerade Martha Weiler gesehen? Und ist das da vorne nicht Hans-Georg Michel? Ich liebe seine florale Kunst, vielleicht sollte ich ihn um ein Autogramm bitten. Natürlich nicht heute«, fügte sie hastig hinzu, nachdem sie Pauls strafenden Blick aufgefangen hatte.

»Das Autogramm kann ich dir besorgen.« Nervös blickte ich auf meine schmale Armbanduhr – das letzte Weihnachtsgeschenk von Pius – und seufzte schwer. Theodor und seine Familie sollten längst hier sein.

»Wenn du alle dreißig Sekunden auf die Uhr starrst, kann sein Flieger trotzdem nicht die Schallmauer durchbrechen. Wir sollten wirklich langsam anfangen, Mama«, tadelte mich Paul.

»Nur noch fünf Minuten.«

Mein Sohn tätschelte sanft meinen Arm – seine liebenswürdige Art, die Augen zu verdrehen. Auch das hatte er mit seinem Vater gemeinsam.

»Ich werde noch mal versuchen, ihn anzurufen«, erklärte Bine zuvorkommend und zog ihr Handy aus der kleinen Handtasche.

Ich hörte das Auto, bevor ich es sah. Ein hellgelbes Taxi kam direkt vor dem schmalen schmiedeeisernen Tor des Friedhofsgeländes mit quietschenden Reifen zum Stehen, die Beifahrertür wurde aufgerissen, und ich wusste, dass er da war. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht ließ Bine ihr Telefon zurück in die Tasche gleiten.

»Mein Junge«, flüsterte ich und konnte nicht verhindern, dass mir schon wieder die Tränen in die Augen stiegen und mir die Sicht verschleierten. Dabei hatte ich gedacht, ich hätte keine mehr übrig. Mein jüngerer Sohn, groß, bärtig und braun gebrannt, kam uns mit großen Schritten entgegengeeilt und schlang seine langen Arme um Paul und mich. Minutenlang standen wir so da, ohne ein Wort zu sagen. Froh, mit diesem qualvollen schwarzen Loch, das Pius’ Tod in unser aller Leben hinterlassen hatte, nicht allein zu sein. Erst als Pauls Frau Sandra sich in ihrer typischen Manier leise räusperte, erinnerte ich mich an Theodors Familie, seine australische Frau Kimberley und ihren sechsjährigen Sohn Aaron, und löste mich von meinen Kindern. Ich drückte meine wunderschöne, hellblonde Schwiegertochter an mich, die wie immer, wenn sie die angeheiratete Verwandtschaft in Deutschland besuchte, eine dicke Wolljacke trug, und wandte mich meinem ältesten Enkel zu. Und erstarrte.

Seit mehr als drei Jahren hatte ich den australischen Teil meiner Familie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vor zwei Jahren hatte Theodor uns alleine in Deutschland besuchen müssen, nachdem Aaron kurz vor dem Abflug krank wurde. Letztes Jahr hatten Pius und ich gemeinsam nach Australien reisen wollen, doch dann war Pius’ Diagnose dazwischengekommen. Und nun, da ich mein Enkelkind endlich wiedersah, fühlte es sich an, als hätte ich einen heftigen Schlag gegen den Brustkorb bekommen, der gleichzeitig Atmung und Herzschlag zum Erliegen brachte. Ich rang nach Luft und hoffte, dass der Eisklumpen in meiner Brust nicht der Vorbote eines Herzinfarkts war.

»Oma, unser Flugzeug hatte Verspätung. Papa hat dem Taxifahrer hundert Euro gegeben, damit er die Verkehrsregeln bricht. Wir wollten doch unbedingt dabei sein, wenn Opa begraben wird.«

Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Aaron sah aus wie er. Nicht nur irgendwie ähnlich, wie es bei wildfremden Menschen vorkommen konnte, sondern er war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleichen prominenten hellblauen Augen, die gleichen geschwungenen dichten Augenbrauen, die gleichen vollen Lippen mit dem definierten Amorbogen. Der gleiche spitzbübische Gesichtsausdruck. Warum hatte das noch nie jemand bemerkt?

Es war, als wäre ich eingefroren, während alles um mich herum zu rotieren begann, immer schneller und schneller. Ich geriet ins Wanken und streckte die Hand nach einer Stütze aus. Ich erwischte Theos Schulter.

»Bist du okay, Mama?« Ich nahm seine Stimme wie durch Watte wahr. »Du bist so weiß wie die Trauerkleider, die Papa sich gewünscht hat.«

Ich konnte nicht antworten, sondern klammerte mich weiterhin an meinem Sohn fest, während nun auch der Rest der Familie beunruhigt auf mich einredete. Irgendjemand reichte mir eine kleine Flasche Wasser.

Fieberhaft versuchte ich, meine konfusen Gedanken zu ordnen. Mit mäßigem Erfolg. »Es ist nur die Anspannung«, brachte ich schließlich mühsam hervor. »Wir sollten langsam hineingehen, der Pfarrer und die Gäste warten schon.«

Mit noch immer bleischweren Beinen und wild pochendem Herzen schaffte ich es irgendwie, untergehakt bei meinen Söhnen und dicht gefolgt von meinen Schwiegertöchtern, Aaron und seinen beiden kleinen Cousinen, Bine und Pius’ großem Bruder Markus, durch den Mittelgang der Kirche bis zur ersten Reihe. Dort ließ ich mich schwer atmend auf meinen Platz sinken. Im Hintergrund ertönten leise die Klänge von Billie Idols »Eyes Without A Face«. Unserem Lied.

Der Anblick von Pius’ verziertem Eichensarg ließ mein Herz erneut stillstehen. Die Gedanken an Aaron und die Vergangenheit vermischten sich mit einer überwältigenden Trauer, die mich wie eine Glaskuppel von der übrigen Welt abschirmte. Das Gefühl des Verlassenseins schlug mir mit einer solchen Wucht entgegen, dass ich es wie einen Schmerz unter meiner Haut pulsieren fühlte. Theodor nahm meine zitternde Hand und drückte sie fest, während der Pfarrer Worte des Mitgefühls und Trosts mit Zeilen aus der Bibel verband.

Nach dem Trauergottesdienst kam mir der Weg zum Friedhof endlos lang vor. Nichts an seinem Tod war richtig. Dass er, der Sportler und Gemüseapostel, mit nur siebenundsechzig Jahren hatte sterben müssen, war absurd und sinnlos. Die Endgültigkeit seines Todes erschlug mich beinahe und trieb mich fort von allem, was ich bisher gekannt hatte.

Wie betäubt stand ich an Pius’ frisch ausgehobenem Grab. Durch den Regen der vergangenen Tage war der Boden hier schlammig, doch ich nahm kaum wahr, dass meine Absätze im Matsch versanken. Ich hielt mich krampfhaft an einem kleinen Strauß gelber Freesien fest, seinen Lieblingsblumen, als ich gedämpft die Worte des Pfarrers wahrnahm: »Die beiden Söhne des Verstorbenen möchten noch einige Worte an Sie richten.«

Die beiden Söhne. Ich schluckte schwer und gab vermutlich einen gequälten Laut von mir, denn Bine hielt mich am Arm fest und raunte mir ins Ohr: »Sie wollen Pius mit ihrer Rede würdigen und dir damit Trost spenden.«

Paul hielt einen kleinen Spickzettel in der Hand, Theo stand ohne Hilfsmittel an seiner Seite. »Liebe Mama, liebe Trauergäste«, begann Paul. »›Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss‹, wusste schon Matthias Claudius. Diese Stunde ist jetzt gekommen, viel zu früh, und wir müssen Abschied nehmen von einem Mann, dessen Verlust nicht nur seine geliebte Frau und uns als seine Söhne mit größtem Schmerz erfüllt, sondern euch alle hier. Denn unser Vater war ein besonderer Mensch: engagiert, gerecht,...

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