Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen - Abstinenz als feministisches Empowerment - Ein autobiografisches Plädoyer für die Klarheit

Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen - Abstinenz als feministisches Empowerment - Ein autobiografisches Plädoyer für die Klarheit

von: Eva Biringer

HarperCollins, 2022

ISBN: 9783365000175

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 1832 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen - Abstinenz als feministisches Empowerment - Ein autobiografisches Plädoyer für die Klarheit



»Hier sind die Fragen, die wir uns stellen müssen: Ist Alkohol das Steroid der modernen Frau geworden, das es ihr erlaubt, dieses schwere Dasein in einer unendlich komplexen Welt zu stemmen? Ist er das Ventil, das Frauen brauchen, am Beginn einer sozialen Revolution? Wie viel davon ist Marketing und wie viel davon das Bedürfnis, sich zu betäuben?«

Ann Dowsett Johnston, Drink. The Deadly Relationship between Women and Alcohol 2

Schon seit Jahren geht der Alkoholkonsum in Deutschland zurück. Von 15,1 Liter im Jahr 1980 auf weniger als 11 Liter im Jahr 2018. 3 Der Konsum Jugendlicher ist sogar auf einem historisch niedrigen Stand, fast 40 Prozent haben noch nie welchen getrunken. 4 Bei einer Gruppe jedoch steigt er: den emanzipierten Frauen. Jenen Frauen, die trotz Fünfzigstundenwoche noch Zeit für Pilates finden, morgens vor der Arbeit laufen gehen und sich anschließend einen 6-Euro-Ingwershot gönnen. Frauen, die beim Abendessen auf Kohlenhydrate verzichten und niemals den Geburtstag einer Freundin vergessen. Wenn sie Single sind, dann nicht der Bridget-Jones-, sondern Carry-Bradshaw-Typ, glamourös, sophisticated, im Besitz eines Fitnessstudiojahresabos und begehbaren Kleiderschranks oder wenigstens genug Schuhen, um einen zu füllen. Wenn sie Mutter sind, haben sie spätestens ein halbes Jahr nach der Geburt ihren Körper wieder in Form gebracht. Detox ist für sie genau wie Bio eine Lebenseinstellung. Diese Frauen also riskieren Tag für Tag den Verlust ihres schönen, gesunden Körpers, weil sie die von der WHO empfohlene Alkoholmenge um ein Vielfaches übersteigen. Sie nehmen billigend in Kauf, dass Alkohol für rund zweihundert Krankheiten verantwortlich ist und das Brustkrebsrisiko vervierfacht. Sie arrangieren sich mit Depressionen, Stimmungsschwankungen und Angstzuständen, weil sie nun mal ein bisschen kompliziert sind, obwohl erwiesen ist, dass Alkohol diese mehr pusht als jeder Ingwershot. Sie gehen Beziehungen ein, die ihnen nicht guttun, und setzen sich Gefahren aus, die sie nicht mal ihren schlimmsten Feinden zumuten würden. Sie fallen hin, dämmern weg und fragen sich am nächsten Morgen, wie das schon wieder passieren konnte. Sie sind bereit, vieles zu ändern, aber nicht diese eine Sache. Stattdessen trinken sie einfach weiter. Einer über hundert Jahre umfassenden Studie der University of New South Wales zufolge wurde der Unterschied im Alkoholkonsum zwischen den Geschlechtern mit jedem Jahrzehnt geringer. »Alkoholkonsum und die daraus folgenden Störungen wurden historisch immer als männliches Phänomen aufgefasst«, so der Suchtforscher Tim Slade. »Das ist eine veraltete Sicht. Mittlerweile sollten besonders die jungen Frauen als Zielgruppe gesehen werden. Gerade in den Jahrgängen ab 1980 und besonders ab 1990 zeigte sich, dass Frauen fast so oft zum Rausch neigen wie Männer und – da sie weniger vertragen – fast ebenso häufig von alkoholbedingten Schäden betroffen sind. Was ›problematisches Trinkverhalten‹ angeht, liegt das Verhältnis zwischen Männern und Frauen für die Jahrgänge 1991 bis 2000 bei 1,2 zu 15 Die Autorin Holly Whitaker formuliert es so: »Die Zukunft ist weiblich, der Wein ist pink, in den Yogakursen wird Bier ausgeschenkt, und die Todesrate steigt.« 6 In ihrem Heimatland USA stirbt jede zehnte Frau einen im Zusammenhang mit Alkohol stehenden Tod. Überall auf der Welt trinken Frauen gegen ihre Zweifel an und gegen unmöglich zu erfüllende Erwartungen. 2015 zählten in Deutschland 14 Prozent zu den sogenannten Risikotrinkerinnen. 7 Bei jenen mit hohem Sozialstatus ist es sogar jede Fünfte. Da sind die unter der Woche tadellos funktionierenden weekend warriors 8 , die sich Freitagnacht in die Bewusstlosigkeit trinken, die Vorortvillenbewohnerinnen, die mit ihrem Mann jeden Abend eine Flasche Bordeaux teilen, die Studentinnen, die sich nach dem Seminar zum Astra-Trinken am Kanal treffen. In vielen Friseursalons namens »Kamm Inn« oder »Scheitelkeiten« gibt es ein Glas Sekt aufs Haus. Mehr noch als einige Jahrzehnte zuvor ist Alkohol gelebte Emanzipation. Du hast es dir verdient, Sister! Du arbeitest wie ein Mann, hast – zwinker, zwinker – dieselben Rechte wie ein Mann, also kannst du auch saufen wie einer. Von Marguerite Duras, deren alkoholbedingtes Zittern manchmal so stark war, dass sie ihre Texte diktieren musste, stammt der Satz: »Eine trinkende Frau, das ist, wie wenn ein Tier oder ein Kind tränke.« Er scheint jede Gültigkeit verloren zu haben. Die Vorstellung einer gebildeten Frau, die ab und zu ein bisschen zu viel trinkt, erscheint heutzutage nicht abstoßend, ganz im Gegenteil. Frauen mit Universitätsabschluss trinken mit doppelter Wahrscheinlichkeit täglich Alkohol als solche ohne. 9 Wo die Grenze verläuft, ist klar. Eine mit Wodka gefüllte Evian-Flasche geht natürlich nicht. Morgens trinken geht auch nicht, außer wenn man anschließend feiern geht oder bei einem Bloody-Mary-Brunch. Mittags trinken geht unter Umständen in Ordnung. Vielleicht nicht beim Businesslunch – außer man macht währenddessen die nächste Champagnergutpressereise klar –, aber auf jeden Fall beim Lunch an einem freien Tag und im Urlaub. Schnaps pur geht nicht, außer bei Junggesellinnenabschieden und in Karaokebars und in Form von Mezcal im Mexikourlaub. Allein trinken geht auf jeden Fall, nur halt keinen Schnaps. Genau genommen ist alleine trinken sogar der Inbegriff von Emanzipation. In der Badewanne, nach einer Zoom-Konferenz, beim Lesen auf dem Balkon, beim Businesstrip im ICE-Speisewagen, im Singleurlaub. Eigentlich geht auch Schnaps in Ordnung, wenn es ein Single Malt Whiskey ist, nur halt nicht aus der Flasche. Und, Moment mal: Genau genommen besteht so ein Negroni ja auch aus drei Sorten Schnaps. Meine Mama hat immer gesagt: Früher konnten die Töchter kochen wie ihre Mütter, heute saufen sie wie ihre Väter. Es stimmt. Überall um mich herum sehe ich sie, die klugen, willensstarken, ehrgeizigen, fantastischen Frauen, Kinderlose und alleinerziehende Mütter, viele von ihnen Single oder in Beziehungen mit wenig ambitionierten Männern. Diese Frauen stapeln tief, glauben, es nicht verdient zu haben. Ihr Leben ist ein einziger großer Selbstzweifel. Nicht für alle spielt Alkohol eine Rolle, aber für viele. Nicht für alle von diesen vielen eine so große wie für mich, aber für manche. Ich höre völlig erschöpfte Mütter, deren Partner sich nicht wie erwartet zu gleichen Teilen um den Nachwuchs kümmert, reproduktionsbereite Frauen, die als Nanny auf Spielplätzen abhängen, weil ihnen zum eigenen Kind der passende Vater fehlt, Frauen mit Heiratswunsch auf Tinder. Für alle ist das Glas Wein am Ende des Tages Belohnung, Rettungsanker und ein Maulkorb für die innere Kritikerin, denn »anders würde ich das gar nicht aushalten«. Anstatt die Verhältnisse infrage zu stellen, suchen sie die Schuld bei sich, anstatt diese Verhältnisse zu ändern, beruhigen sie die flattrigen Nerven mit Pinot Grigio, so wie ihre Mütter es vielleicht mit Valium taten. Es betrifft viele von uns, und es werden mehr.

»Wenn ich Leuten erzählte, dass ich ein Buch über Sucht und Genesung schrieb, sah ich oft, wie sich ein Schleier über ihre Augen legte. Ach so, schienen die Blicke zu sagen, dieses Buch habe ich doch längst gelesen.« Dieses Zitat stammt aus Leslie Jamisons autobiografischem Roman Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung, der in meinem Umgang mit Alkohol eine Schlüsselrolle einnimmt. Ich weiß genau, was sie meint. Wer anfängt zu suchen, findet ziemlich viele Bücher zu diesem Thema, auch und gerade von Frauen, die ihre eigene Geschichte schildern. Im englischsprachigen Raum gibt es eine regelrechte Kultur der sober literature beziehungsweise quit lit, darunter Ruby Warringtons Sober curious, Laura McKowens We are the luckiest oder Holly Whitakers Quit like a Woman. Mir haben diese Bücher enorm geholfen in einer Zeit, als das Nüchternsein zum Greifen nah war und doch so weit weg wie die Toilette vom Bett, wenn ich betrunken war. Phasenweise war ich regelrecht süchtig nach den Erfahrungen anderer Frauen. Woche um Woche schleppten Amazon-Mitarbeiter (es waren komischerweise immer Männer) Pakete mit Trinkliteraturnachschub in den vierten Stock.

Ist das Thema also ausgeschrieben? Nein, denn Frauen brauchen eine Stimme. So oft wurden wir in der Vergangenheit zum Schweigen gebracht und werden es immer noch. Wir wachsen auf in dem Glauben, nicht zu viel Raum einnehmen, unsere Bedürfnisse nicht so wichtig nehmen zu dürfen. Über die eigenen first world problems klagen? Wie eitel. Dabei sollten wir uns vor Augen halten, dass unsere Sorgen, Ängste und Zweifel in den seltensten Fällen privat sind, sondern einen gesellschaftlichen Ursprung haben. Im Fall von Alkohol zum Beispiel. Wir treffen Freundinnen zum Brunch, Lunch oder Dinner und trinken. Wir feiern Beförderungen, baby showers und Bergfeste, trinkend. Wir trinken als Trost und wenn es uns gut geht. Wir belohnen uns nach einem anstrengenden Videocall mit einem Quarantini, legen uns mit einem Shiraz in die Badewanne oder öffnen dienstagnachmittags eine Flasche Jahrgangschampagner und sprechen einen...

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