Früher Kindsverlust und Folgeschwangerschaft - Psychotherapie und psychologische Begleitung

Früher Kindsverlust und Folgeschwangerschaft - Psychotherapie und psychologische Begleitung

von: Ines Fuchs

ERNST REINHARDT VERLAG, 2021

ISBN: 9783497614714

Sprache: Deutsch

140 Seiten, Download: 2917 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Früher Kindsverlust und Folgeschwangerschaft - Psychotherapie und psychologische Begleitung



2 Kindsverlust und Folgeschwangerschaft im Zeitverlauf

Für die Behandlung von Eltern nach einem Verlust ist es unabdingbar, die Umstände möglichst genau zu verstehen. Um die für Kindsverlust und Folgeschwangerschaft typischen Problemstellungen für Sie erfahrbar zu machen, werden in diesem Teil die wichtigsten Vorkommnisse, Meilensteine und Fragestellungen entlang einer Zeitachse dargestellt. Die Unterpunkte 1-4, die die Zeit nach dem Verlusterlebnis beschreiben, sind an den Trauerphasen der Schweizer Psychologin Verena Kast (2013) orientiert (1. Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens, 2. Die Phase der aufbrechenden Emotionen, 3. Die Phase des Suchens und Sich–Trennens und 4. Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs). Die darauffolgenden Unterpunkte stellen einen idealtypischen Ablauf der Entscheidung für eine weitere Schwangerschaft bis zur Geburt des „Folgekindes“ dar. Die Phasen gehen fließend ineinander über bzw. überschneiden sich, und stellen auf keinen Fall einen „Soll-Verlauf“ dar. Selbstverständlich ist es notwendig, die Klienten genauestens nach ihrem individuellen Erleben zu befragen.

2.1 Phase des Schocks

Die meisten Eltern befinden sich während der Schwangerschaft in freudiger Erwartung auf ihr Kind. Trotz der vieldiskutierten Unsicherheit schwangerer Frauen, die durch die Möglichkeiten moderner medizinischer Diagnostik und Interventionen und die häufige Kategorisierung als „Risikoschwangere“ angefeuert wird, erwarten die allermeisten, am Ende ihr Baby in den Armen zu halten. Etwaige Zweifel lösen sich meist nach den ersten drei Monaten auf, wenn auch das Umfeld und der Arbeitgeber informiert werden.

Von Beginn an wurden je nach Schwangerschaftswoche vielfältige, teils sehr belastende Symptome ertragen (u. a. Übelkeit, extreme Müdigkeit, Verstopfung, Hämorrhoiden, schwere Beine, Symphysenschmerzen), Yoga-Kurse für Schwangere besucht, eine Baby-Party gefeiert, die Schwangerschaft auf diversen Social-Media-Kanälen gepostet, das Kinderzimmer aufgebaut und eingeräumt und die Krankenhaustasche gepackt. Die Elternzeit wurde mit dem Partner und der Arbeitsstelle geplant, der Elterngeldantrag gestellt und verschiedenste Vorkehrungen getroffen. In zahlreichen Arztbesuchen haben sich die Eltern vom Wohlergehen ihres Kindes überzeugt. Die Mutter hat auf viele potenziell schädliche Nahrungsmittel verzichtet und gedanklich bei fast allem, was sie tat, das Wohlergehen ihres ungeborenen Kindes berücksichtigt. Durch die Kindsbewegungen, Ultraschalluntersuchungen und gemeinsame Träume und Planungen ist bereits eine tiefe Bindung an das Baby, das eigen Fleisch und Blut, entstanden. Auch das Geschlecht ist oft schon früh bekannt und es gibt einen oder mehrere Namensfavoriten. Die Eltern haben vielleicht einen Ratgeber gekauft und einen Geburtsvorbereitungskurs besucht. Eventuell stand auch ein Umzug oder ein neues Auto an, um gut auf den Nachwuchs vorbereitet zu sein.

Für manche Paare kommt der Tod ihres Kindes völlig überraschend und aus dem Nichts nach einer unauffälligen Schwangerschaft. Andere haben bereits vielfältige Komplikationen erlebt oder eine schwere Diagnose erhalten, weshalb diese Zeit bereits von Zweifeln und Ängsten überschattet war. Eventuell haben sie sich nach einer quälenden Zeit für den vorzeitigen Abbruch der Schwangerschaft entschieden. Wieder andere erleiden wiederholt frühe Aborte und kommen gar nicht dazu, das oben Beschriebene zu erleben. Häufig wird der Tod des Kindes durch fehlende Herztöne festgestellt, manchmal kommt es vorher zu Auffälligkeiten wie Blutungen oder zu unerwarteten Komplikationen bei der Geburt.

Der Verlust des eigenen Kindes löst tiefste Verzweiflung und Bestürzung aus, die in Worten kaum zu beschreiben ist. Oft löst die Nachricht einen dissoziativen Schockzustand aus, in dem das Geschehene noch nicht in seiner Bedeutung erfasst wird und eine Art Schutzmechanismus darstellt.

„Ich dachte, ich müsste innerlich zerreißen, aber ich tat es leider nicht. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, meine Beine hielten mich nicht mehr, ich bekam keine Luft mehr. Das konnte einfach nicht wahr sein, es musste ein Fehler sein, der sich gleich aufklären würde.“

Wenn das Kind während der Schwangerschaft verstirbt, wird den Eltern meist Zeit gegeben, sich zu Hause auf die Ausschabung oder die stille Geburt vorzubereiten. Der Wunsch des medizinischen Personals, die Eltern zu trösten, entlädt sich leider immer noch häufig in unbedachten Äußerungen wie „Sie sind doch noch jung“, „Seien Sie froh, dass es so früh passiert ist, es war bestimmt krank“ und „Das passiert schon mal“. Bei unerwarteten Komplikationen wird auch schon einmal vergessen, der verwaisten Mutter ein eigenes Zimmer anzubieten, damit sie nicht permanent mit Schwangeren und Babys konfrontiert ist. Begrifflichkeiten im Arztbrief wie „der Abortus“ bei einem komplett entwickelten Kind sollten vermieden werden.

Im Falle einer stillen Geburt wird der Mutter dringend empfohlen, natürlich zu gebären, um eine kürzere Heilungszeit zu gewährleisten und zusätzliche Risken durch einen Kaiserschnitt für die nächste Schwangerschaft zu vermeiden. Nach initialem Entsetzten entscheiden sich die meisten Frauen für diesen Weg. Neben der unfassbar schweren Aufgabe, das eigene Kind tot zur Welt zu bringen, beschreiben viele die Geburt auch als gleichzeitig schönen Moment und einen der wenigen, den sie mit ihrem Kind verbringen konnten. Es können im Gegensatz zu einer Lebendgeburt in der Regel großzügig Schmerzmittel verabreicht werden. Nach einer spontanen Geburt entfällt die längere Wartezeit bis zu einer erneuten Schwangerschaft, die nach einer Sectio empfohlen wird. Während bis vor wenigen Jahrzehnten die Babys den Müttern schnell weggenommen wurden, um diese zu „schützen“, und mit dem Klinikmüll entsorgt wurden, hat sich der Umgang mit Familien in dieser besonderen Situation, vor allem dank des Engagements Betroffener, deutlich verbessert. In aller Regel wird den Eltern Raum gegeben, Zeit mit dem so genannten „Sternenkind“ zu verbringen, und sie werden ermutigt, trotz oft großer Berührungsängste, ihr Kind auf den Arm zu nehmen, wenn sie möchten. Auch das Ankleiden, Fotografieren durch Sternenkinderfotografen und Anfertigen wertvoller Erinnerungsstücke wie Fußabdrücke wird angeboten. Trotz der Überforderung der Eltern scheinen die meisten im Nachhinein froh über jede gemeinsame Erinnerung zu sein.

Gleichzeitig müssen die ersten, sehr schwierigen, Entscheidungen getroffen werden. Hierzu gehört, ob das Kind obduziert werden soll. Zum einen besteht der große Wunsch, eine Ursache für den Tod zu finden, insofern er nicht offensichtlich war, was eventuell zukünftige Schwangerschaften beeinflussen könnte. Zum anderen fällt vielen Eltern die Vorstellung schwer, ihr Kind dieser Prozedur zu übergeben. Trotz Obduktion bleibt ein erheblicher Teil der Todesfälle ungeklärt. Manchmal werden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet, um eine nicht natürliche Todesursache auszuschließen, was natürlich für die Eltern eine enorme zusätzliche Belastung darstellt.

Die nächste Entscheidung stellt die Planung der Beisetzung dar. Mittlerweile existieren auf (Krankenhaus-)Friedhöfen auch für sehr kleine Kinder Bestattungsmöglichkeiten zusammen mit anderen Sternenkindern. Andere Eltern entscheiden, ihre Kinder im Familiengrab, Kindergrab oder Waldfriedhof beizusetzen (was einen nicht unerheblichen Kostenfaktor darstellen kann). Der Umfang eventueller Feierlichkeiten und der eingeladenen Gäste will gut überlegt sein. Je nach Paar kann eine sehr private Beisetzung oder eine große Zusammenkunft, bei der die wichtigsten Menschen im Umfeld sich auch verabschieden können, stimmig sein. Es sollte auf jeden Fall bedacht werden, dass die Art des Abschiednehmens noch lange Zeit später (wenn nicht für immer) von großer Wichtigkeit für die Angehörigen ist. Hier ist die Unterstützung durch Familie, enge Freunde, Seelsorger, Beratungsstellen und einfühlsame Bestatter besonders wichtig.

Geschwisterkinder werden meist bereits im Krankenhaus ins Abschiednehmen miteinbezogen. Gerade kleinere Kinder haben oft einen sehr unbefangenen, nahezu beneidenswerten Umgang mit dem toten Baby. Wie größere Kinder, denen das Geschehene ebenso altersentsprechend nahegebracht werden muss, müssen sie das Geschehene mit ihren Möglichkeiten verarbeiten und leiden auch unter der psychischen Verfassung der Eltern.

Die Mutter erlebt nach einer stillen Geburt alle Aspekte des Wochenbetts (u. a. Rückbildungsschmerzen, Wochenfluss, exzessives Schwitzen, ggf. Milcheinschuss und Brustentzündung, später Haarausfall). Eventuell muss sie sich von einem Kaiserschnitt erholen oder hat Geburtsverletzungen und andere gesundheitliche Folgen davongetragen. Das hormonelle Ungleichgewicht, das auch die Stimmung beeinflussen kann, lässt sich hier schlecht von der akuten Trauer differenzieren, sollte aber auch nicht außer Acht gelassen werden. Bei einer länger andauernden Schwangerschaft ist der Beckenboden in Mitleidenschaft gezogen und der gesamte Körper hat sich verändert, weshalb ein Rückbildungskurs für verwaiste Mütter, auch zum Austausch, sehr zu empfehlen ist, da sich normalerweise keine von ihnen vorstellen kann, einen Kurs mit „glücklichen Müttern“ zu besuchen. Da diese Kurse leider noch nicht weit verbreitet sind, können durch Hebammen oder Physiotherapeuten Einzelsitzungen gegeben werden, die allerdings nicht die Vorteile eines Gruppensettings aufweisen, wie Austausch, Verständnis und soziale Unterstützung.

Die psychische Verfassung der Eltern in dieser Phase ist meist desolat....

Kategorien

Service

Info/Kontakt