Bin ich mein Gehirn? - Dem Bewusstsein auf der Spur

Bin ich mein Gehirn? - Dem Bewusstsein auf der Spur

von: Tim Parks

Verlag Antje Kunstmann, 2021

ISBN: 9783956144455

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 887 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Bin ich mein Gehirn? - Dem Bewusstsein auf der Spur



FARBEN


Lassen Sie uns ein paar Erlebnisse auf dem Weg zum Frühstück überspringen. Ich bin in Heidelberg, um verschiedene Professoren zu treffen und mich mit ihnen darüber zu unterhalten, was Bewusstsein ist. Ich bin in Heidelberg, um ein paar schöne Tage mit meiner Partnerin zu verbringen. Beim Betreten des Frühstücksraums unseres Hotels fällt es schwer, eventuelle taxierende Blicke nicht wahrzunehmen. Meine Partnerin ist halb so alt wie ich. Knapp halb so alt, um ehrlich zu sein; der Kipppunkt wird in etwa einem Jahr kommen, wenn sie einunddreißig wird. Rechnen Sie selbst. Mit derart asymmetrischen Beziehungen stimmt angeblich etwas nicht. Diverse Instanzen, sowohl religiöse als auch weltliche, behaupten, es sei weitaus gesünder, wenn Paare mehr oder weniger gleichaltrig sind. Diese Sichtweise entspricht nicht unserer Erfahrung, ich meine meiner und der meiner Partnerin; für uns ist unsere Beziehung absolut in Ordnung. Wir finden es geradezu erschreckend, wie massiv sich diese mutmaßlich kompetenten Instanzen in dieser Hinsicht irren können. Da fragt man sich, in wie vielen anderen Dingen sie sich noch irren? Mein Freund Riccardo Manzotti zum Beispiel hat vor Kurzem gezeigt, dass das aktuelle Modell, das verwendet wird, um zu erklären, was passiert, wenn wir Farbnachbilder sehen, gänzlich falsch ist. Aber das ist ein anderes Thema. Jetzt, während wir uns hier im Frühstücksraum an einen Tisch setzen, sind wir uns der Blicke von zwei, drei Personen bewusst, die abschätzen, ob wir wohl Vater und Tochter sind, oder eher ein älterer Mann und seine Geliebte, die einen kleinen Seitensprung genießen. Aber wie könnten wir Vater und Tochter sein, so unterschiedlich, wie wir aussehen? Die Leute spüren so etwas sofort; riesige Mengen von Lebenserfahrung kommen hier zum Tragen, ganz ohne Nachdenken, ich meine, ohne bewusste Reflexion. Der scharfe Beobachter weiß ganz einfach Bescheid. Das Zimmermädchen beispielsweise, ein stattliches junges Mädchen unter zwanzig mit einer gestärkten weißen Schürze und einer kleinen schwarzen Haube auf dem Kopf, setzt sofort einen verschwörerischen Gesichtsausdruck auf; sie wird unserem vermeintlichen Fehltritt wohlwollend gegenüberstehen.

Das ist natürlich ein Thema, über das sich leicht schreiben ließe: wie sich die Lebenswege zweier Menschen plötzlich auf ganz unerwartete, geradezu abwegige Weise ineinander verwickeln, und wie die Leute darauf reagieren. Das ist der Stoff, aus dem Bücher gemacht werden. Meistens. Ich meine Romane. Weil wir dazu neigen, auf diese Weise über unser Leben nachzudenken, die Dinge rückwärts und vorwärts projizieren, um daraus Geschichten zu machen. Und auch weil Wörter und Sätze, die zeitlich linear verlaufen und unterwegs Energie einsammeln, genau darin gut sind, gut im Erzählen von Geschichten, die sich ebenfalls durch die Zeit bewegen: Menschen begegnen sich, verlieben und entlieben sich, finden und verlieren Jobs, streben nach etwas und haben Erfolg, streben nach etwas und scheitern. Letztendlich scheinen weite Teile unseres Lebens aus Wörtern zu bestehen, die dem heiklen, kaum beschreibbaren Zustand unseres tatsächlichen, alltäglichen Daseins, den einzelnen Momenten unseres Aufder-Welt-Seins, eine Gestalt und Dynamik aufzwingen: dem Aufwachen und Erblicken des Schranks und der Tapete, dem wiederholten Eintauchen in die Welt der Träume, während die zehnminütige Schlummerphase des Weckers zuerst brutal kurz und dann beunruhigend lang erscheint. Geschichten sind uns vertrauter als das Leben selbst. Es fällt uns leichter, darin zu sein. Vermutlich mögen wir deshalb so gern Romane. Auch Biografien, historische Erzählungen und Memoiren. Ich jedenfalls mag sie sehr. In ihnen entfaltet sich mensch liches Erleben auf eine sinnvolle Art und Weise, indem die vielen redundanten Erfahrungen zwischen Aufwachen und Frühstück einfach ausgeblendet werden: der obligatorische Gang zur Toilette, das nervige Her umprobieren, um zu ermitteln, wie die Hoteldusche funktioniert, das Gefühl, von den glänzenden, spiegelnden Oberflächen überall geblendet zu werden, die Notwendigkeit, die Brille wieder aufzusetzen, um die klein gedruckten Aufschriften der kleinen bunten Fläschchen zu lesen: Shampoo oder Duschgel? Wie könnte man je eine Geschichte am Laufen halten, oder auch eine Betrachtung des menschlichen Bewusstseins, wenn man sich genau anschauen wollte, wie das Leben, oder das Bewusstsein, tatsächlich ist?

Nein, wenn wir anfingen, über den gegenwärtigen Moment und den mit ihm einhergehenden Taumel der Wahrnehmungen und Gedankengänge zu schreiben, dann wären wir überwältigt. Wir könnten niemals alles erfassen. Und wir würden die Leser zu Tode langweilen. Der Genius der Sprache liegt im Auslassen. Sie lässt das meiste aus, genau genommen fast alles; sie lädt die Leser ein, sich im Schnellzug durch die unnötig überladene Landschaft der Alltagserfahrungen tragen zu lassen.

Oder wenn wir uns doch vornehmen, alles zu erzählen, ich meine zu beschreiben, wie das Leben wirklich ist, in jedem einzelnen Moment, dann wird unsere Angst, die Leser zu langweilen, so groß, dass wir versuchen, etwas Besonderes daraus zu machen, die Lawine aus Einzelwahrnehmungen durch Rhythmus, Reime und poetische Mittel abzuschwächen. Wir werden versuchen, unseren Bericht attraktiv zu machen. Ulysses-ähnlich. Aber das Attraktive daran wird der Text sein, nicht der Augenblick selbst. Wir werden uns für die Art der Übermittlung interessieren statt für das Übermittelte, so wie jeder weit mehr an Ulysses dem Buch interessiert ist, seiner Form des Stream of Conscious ness und seinem kontroversen Autor James Joyce, als an den Themen, von denen dieses Buch tatsächlich handelt: Dublin, Masturbation, Zeitungswerbung, Beerdigungen, Prostituierte.

Das möchte ich vermeiden. Das Problem, mit dem ich auf dieser Reise nach Heidelberg konfrontiert bin, besteht in der Frage, wie ich mich auf das Thema des Bewusstseins konzentriere, wie ich Sie dazu bringen kann, sich darauf zu konzentrieren, ohne eine literarische Absicht zu verfolgen. Es geht hier nicht um Schönheit. Auch nicht ums Melodram. Nicht mal um Polemik. Sondern schlicht und einfach um die Frage: Können wir als gewöhnliche Menschen etwas Nützliches über das Bewusstsein aussagen, indem wir in den kommenden zwei Tagen in jedem Moment unsere persönlichen Erfahrungen betrachten? Und dann um die Frage: Sind die Modelle, Erklärungen oder was auch immer, die über das Bewusstsein existieren, die Versionen der Vorgänge, die zahlreiche Experten vertreten, stimmig? Passen sie zu dem, was wir Sekunde für Sekunde erleben? Und wenn nicht, warum nicht? Zum Glück haben wir uns mit ein paar klugen Leuten verabredet, mit denen wir über diese Fragen sprechen können.

Trotz allem kann ich nicht umhin, hier innezuhalten und die Pracht des Frühstücksbuffets in diesem Heidelberger Hotel zu beschreiben. Es befindet sich in einer Ecke des Raums, auf einer Theke aus schwarzem Stein, die entlang zweier Wände aufgebaut ist. Zumindest sieht die Oberfläche aus wie Stein. Darauf stehen silberne Platten mit Obst – hellgrüne Melonenschnitze, in gleichmäßige Dreiecke zerteilte Ananasfrüchte, große pralle Erdbeeren, einzeln nebeneinander direkt auf der Platte platziert, Feigen, die ihr fleischiges Inneres offenbaren (das nur wenig bräunlicher ist als die glänzend roten Erdbeeren), und in der Mitte der Platte, ich meine jeder Platte, der stachelige runde Blattschopf einer Ananas mit den dunkelgrünen, ineinandergeschachtelten Blättern, die sich zu einer glorreichen Krone öffnen.

Zwischen den Platten – pardon, noch sind wir nicht fertig – stehen dreifüßige Schalen, in denen Äpfel, Trauben, Orangen und Kiwis hoch über den anderen Speisen thronen, Kerzen in silbernen Haltern mit elektrischen Flammen und, denn wir sind hier in Deutschland, Teller mit Gewürzgurken und dekorativ aufgeschnittenen Radieschen, um den Kontrast zwischen weiß und rot zur Geltung zu bringen, dünnen Scheiben von Tomaten sowie roten, grünen und gelben Paprikaschoten, das alles neben Käsescheiben und Schinkenröllchen gleichmäßig auf Salatblättern arrangiert, daneben Schüsseln mit gekochten Eiern, Körbe voller knuspriger Brötchen mit Sesamkörnern und Bretter mit dunkelbraunen Brotlaiben, die fest in weiße Stoffservietten gewickelt sind, damit man sie aufschneiden kann, ohne seine Bakterien auf das Brot zu übertragen.

Hinter all diesem Überfluss verläuft entlang der beiden Wände, die diese Buffetecke bilden, ein Spiegel, gerade hoch genug, um die Farbexplosion, die durch helle, in die Decke eingelassene Punktstrahler noch intensiviert wird, zu verdoppeln. Mehr als zu verdoppeln eigentlich, denn von dem Winkel aus, in dem ich jetzt vor dem Buffet stehe und mir mit der Gabel Obst in meine Schale fülle, reflektiert der Spiegel vor mir nicht nur die Früchte, sondern auch den Spiegel an der anderen Wand und erzeugt so eine berauschende Vervielfältigung dieser wunderbaren, wunderbar angerichteten Speisen, die das aufmerksame Hotelpersonal unablässig nachfüllt.

Und dabei habe ich die glänzenden weißen Teller und das polierte Besteck noch...

Kategorien

Service

Info/Kontakt