Klasse und Kampf

Klasse und Kampf

von: Christian Baron, Maria Barankow

Ullstein, 2021

ISBN: 9783843725347

Sprache: Deutsch

200 Seiten, Download: 2381 KB

 
Format:  EPUB

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Klasse und Kampf



Bremsklotz


Von Arno Frank

Mit dreizehn Jahren war ich von Die Rückkehr der Jedi-Ritter so begeistert, dass ich mich an eine eigene Fortsetzung machte. Die ersten Seiten hämmerte ich in eine mechanische Flohmarktschreibmaschine von Olympia, bis sich da irgendwas heillos verhedderte. Weiter schrieb ich auf einer elektrischen IBM Model B Executive, Baujahr 1959, tonnenschwer und aus Beständen der US-Armee. Als da­rin irgendwas durchbrannte, tippte ich auf einer elektronischen Thermoschreibmaschine von Brother weiter, die hatte schon ein LCD-Display. Das Gerät war wunderbar, aber eine evolutionäre Sackgasse. Als mir das Thermopapier ausging, schrieb ich die letzten Seiten von Das Geheimnis des Todessterns per Hand mit dem Kugelschreiber. Nicht alles ist eine Frage der Produktionsmittel.

1984 sitze ich erstmals an einem Commodore, im neuen Computerraum meiner Schule. Ich sehe keinen Rechner, kein Werkzeug zum Programmieren. Ich sehe eine Schreibmaschine. Und tippe an diesem Nachmittag eine peinliche Kurzgeschichte, die ich komplett vergessen habe – bis auf ihren Anfang. Was daran liegt, dass ich die erste Seite versehentlich im Drucker liegen lasse.

Dort muss Angelika aus der Neunten sie gefunden haben. Ich kenne das ältere Mädchen nur vom Sehen und bis dahin nicht einmal ihren Namen. Wohl aber erkennt Angelika eine Blöße und tut, was manche Gemüter dann offenbar tun müssen. Sie fotokopiert die Seite und hängt sie in der Schule auf. Und so ist, was ich nur für mich aufgeschrieben hatte, anderntags auf den Korridoren, am Schwarzen Brett, in den Klassenräumen, einfach überall zu lesen:

Ein Baske aus Galicien


Von Arno Frank

Ebenso gut hätten Sätze aus meinem Tagebuch verbreitet, hätte ich beim Stehlen oder Onanieren erwischt werden können. Es ist die einzige einschneidende Ausgrenzung und Ächtung, an die ich mich erinnern kann. Eine absolute Demütigung, die nicht auf mein Geschlecht, mein Gewicht, meine Hautfarbe, Herkunft, Religion oder sexuelle Orientierung zielte – auf nichts, was ich zu diesem Zeitpunkt war. Sondern darauf, was zu werden ich mir damals noch diffus erträumte: einer, der schreibt.

Die Attacke war perfide, die Katastrophe komplett, meine Scham abgrundtief – aber nicht bodenlos. Auf ihrem trüben Grund fand ich ein goldenes und grimmiges Gefühl, das ich heute mit »Na, das wollen wir doch mal sehen!« übersetzen würde. Mit diesem Gefühl konnte ich damals recht schnell die totale Entmutigung in eine dauerhafte Ertüchtigung verwandeln.

Die Hoheit darüber, wer ich war, bin oder sein werde, liegt nicht bei Angelika aus der Neunten, sie liegt nicht einmal bei »der Gesellschaft«. Sie liegt bei mir. Und ich bin erst dann ein Opfer, wenn ich mich in dieser Rolle einrichte. Wenn diese Resilienz ein Privileg ist, dann habe ich es mit zwölf Jahren erstmals genossen.

Mein Elternhaus stand seltsam schräg zu jeder Form von Klasse. Mein Vater war ein talentloser Teilzeitganove. Mal kam was rein, mal nicht, derweil meine Mutter uns als Schulbusfahrerin leidlich über Wasser hielt. Wir wohnten außerhalb der Stadt, weil es dort günstiger war. Und auch das nur von Räumungsklage zu Räumungsklage, weil die Eltern oft die Miete schuldig bleiben mussten. Es war auch kein Geld da für unvergessliche Urlaube, lustige Kindergeburtstage, passende Schuhe. Wir waren »Asoziale«. Leute, mit denen etwas nicht stimmt.

In ein Leben im toten Winkel der Gesellschaft kann man leicht hineinwachsen und dort eine unbehelligte Kindheit verbringen. Sichtbarkeit wäre peinlich, Aner­kennung absurd. Mit der Pubertät wird es schwieriger. Du kannst lesen, um zu werden, wer du bist. Und du kannst malochen, damit du dir deine Bücher und Schallplatten leisten kannst. Du hast Anspruch auf einen Scheißdreck, aber worauf wolltest du ihn auch erheben?

Wer diesen Anspruch geerbt hat, lebt in der gelassenen Erwartung, dass ihm das Gute schon in den Schoß fallen wird. Und tut es das endlich, liegt’s da genau richtig. Andere verbringen ihr ganzes Leben in ständiger Angst, dass man ihnen eines Tages auf die Schliche kommt.

Das bin ich.

Spielzeug


Ich bin siebzehn, als sich mir erstmals das Gesicht des Kapitalismus zeigt. Es sieht für mich aus wie eine ulkige Giraffe namens Geoffrey.

Geoffrey lebt in einem Leuchtturm an der US-Ostküste und fährt in einem mit Kartoffelchips betriebenen Doppeldeckerbus durch die Welt, um Kinder glücklich zu machen. In meiner Heimatstadt tauchte das Maskottchen gegen Ende der Achtzigerjahre im Gewerbegebiet auf, um eine der ersten Toys »R« Us-Filialen in Deutschland zu eröffnen – und mir Gelegenheit zu geben, erstmals eigenes Geld zu verdienen.

Mit Glück nimmt den Ungelernten jemand unter seine Fittiche. Bei mir ist das Marco, Lagerarbeiter. Einräumen, ausräumen. Eigentlich ist Marco der Gitarrist von Vanden Plas, einer in Kaiserslautern weltberühmten Metalband. Sogar auf den Plastiksaiten einer Kindergitarre für »nur 9,99 Mark« kann er die ersten Akkorde von »Wish You Were Here« spielen. Er macht den Job, um sich eine Stratocaster leisten und darauf eines Tages auch das Solo von »Comfortably Numb« spielen zu können.

Stratocaster kenne ich von den coolen Kerlen an meinem Gymnasium. Die Coolen verachten das Establishment und damit ihre nach ökologischen und organischen Gesichtspunkten erbauten Elternhäuser. Die Eltern kaufen ihnen Instrumente von Fender und Ibanez und Zildjian und Roland, damit die Coolen der Verachtung für das Milieu, in dem sie wurzeln, einen adäquaten Ausdruck verleihen können: Punk. Ihre Band heißt Helmut Honecker.

Marco und ich räumen Windeln und Rasseln und Bauklötze und Flugzeuge und Pistolen und Barbies und Brettspiele und Süßigkeiten und Kindergitarren ein. Das ist gut. Schlimm ist es, an der Kasse zu hocken. Ihr Piepen verfolgt mich bis in den Schlaf. Einmal müssen wir ein ganzes Regal demontieren, weil dahinter eine Ratte verwest. Das gefällt Geoffrey der Giraffe gar nicht.

Im Büro hängt über der Kaffeemaschine das Porträt eines älteren Herrn mit Brille und Stirnglatze. Das ist Charles Lazarus, der legendäre Erfinder von Geoffrey und Toys »R« Us. Die Filialleiterin ist Lisa, eine sportliche Frau mit kurzen Haaren. Ich bin ein bisschen verliebt. Sie verehrt Lazarus wie einen reichen Großvater und hofft, demnächst eine Fortbildung in der Firmenzentrale machen zu können. Wayne, New Jersey. Alle sind per Du, die Hierarchie ist flach. Unten »wir«, oben Lazarus. Und da­rüber Geoffrey, die grinsende Giraffe. Als Marco sich erkundigt, warum wir keinen Betriebsrat haben, schmeißt Lisa ihn raus.

»Arbeite beständig«, schreibt Marc Aurel, »betrachte die Arbeit wie eine Plage, und wünsche dir dafür weder Lob noch Teilnahme.«

Als die Ferien vorbei sind, geben Helmut Honecker ein Konzert auf dem Schulhof. Mit neuen Titeln, die sie in den vergangenen Wochen eingeübt haben. Sie sind toll.

Müll


Ich bin achtzehn, und mein erster Ferientag ist wieder ein erster Arbeitstag, diesmal »beim Becker«, der örtlichen Müllabfuhr, erstmals in der frostigen Dunkelheit eines klammen Oktobermorgens. Ich steige in einen orangen Overall und bekomme Handschuhe, dazu wuchtige Schuhe mit Stahlkappen. Arbeitsschutz! Nicht einfach nur früh, sondern »in aller Herrgottsfrühe« dieseln wir mit einem Dinosaurier von Müllwagen durch die Abgeschiedenheit des Pfälzer Berglands.

Im überhitzten Führerhaus hocke ich zwischen zwei vollberuflichen Kollegen. Der Egon mit seiner Wampe und den dicken Brillengläsern bleibt immer am Steuer. Der Schorsch geht raus mit mir auf die stählerne Plattform hinten am Wagen. Beim innerdörflichen Gegondel von Wertstoffbeutel zu Wertstoffbeutel haben wir beim Atmen die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Halten wir die Gesichter in den eisigen Wind, atmen wir die Dieselwolken aus dem Auspuff. Halten wir sie im Windschatten, atmen wir die Verwesung aus dem Inneren der Müllpresse.

Schorsch ist Profi. Er trägt nur Turnschuhe und zeigt mir, wie eine glimmende Roth-Händle im Mundwinkel beide olfaktorischen Zudringlichkeiten bannt. Er zeigt mir auch, wie die federleichten Wertstoffbeutel während der Fahrt einzusammeln sind, eine Hand am Griff, die andere ausgestreckt nach den Säcken, die in regelmäßigen Abständen aus der Dämmerung auftauchen.

Einmal schleiche ich alleine durch dichten Nebel die Auffahrt zu einem Bauernhof hinauf, als plötzlich ein sehr entschlossener Schäferhund auf mich losgeht.

In wenigen Schritten bin ich wieder auf der Plattform, brülle: »Fahr! Fahr!«, während Egon am Steuer vor Lachen kaum die Kupplung findet, bevor er endlich Gas gibt, der Köter hinterher, fliegende Speichelschlingen um die Lefzen, und ich mit meinen Stahlkappenschuhen ins Leere trete. Als ich endlich wieder ins Führerhaus umsteigen kann, wischt sich der Schorsch mit schwieligen Handballen die Tränen aus dem Gesicht, vor Lachen. Da musste er auch mal durch vor langer Zeit, als »Frischling«. Aber jetzt ist Schorsch stolzer Müllmann mit Leib und Seele. Er stinkt, das schon, macht aber »rischtisch...

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