Das Leben ist zu kurz für Mimimi - Warum es befreiend ist, Verantwortung zu übernehmen

Das Leben ist zu kurz für Mimimi - Warum es befreiend ist, Verantwortung zu übernehmen

von: Constanze Kleis

Gräfe und Unzer Autorenverlag, ein Imprint von GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, 2020

ISBN: 9783833876189

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 1103 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mehr zum Inhalt

Das Leben ist zu kurz für Mimimi - Warum es befreiend ist, Verantwortung zu übernehmen



Alles auf Anfang


»Jeder hat seine Probleme.«

Elton John

Meine Mutter erzählte oft, wie unwirsch ich als Kleinkind werden konnte, wenn man mir etwas abnehmen wollte. Auch die Dinge, für die ich eigentlich noch längst nicht alt genug war. Zum Beispiel die kostbare Zuckerdose von Oma zum Schrank tragen. »Ich kann auch allein …!«, erklärte ich und fand das – wie vermutlich so ziemlich alle aus dieser Altersgruppe – ein höchst begehrenswertes Fernziel. Falls sich das Erwachsenwerden überhaupt lohnen würde, dann doch unbedingt dafür. Allerdings habe ich mich da offenbar schwer getäuscht. Denn in den letzten Jahren gleicht die Aussicht, etwas selbst zu entscheiden, offenbar zunehmend einer Einladung in den mentalen Panikraum. Mittlerweile gibt es kaum noch einen Lebensbereich, in dem wir uns nicht lieber von Profis unter die Arme greifen lassen. Dauernd werden damit unsere Daseinskompetenzen auf den Status »Anfänger« gestellt. Wir überlassen es Coaches, Beratern und anderen Menschen, die es angeblich besser wissen wollen als wir, unser Leben zu lenken. Sie zeigen uns, was Glück ist und wie man es erreicht, wie man sich verliebt, trennt, wie man Kinder erzieht, Karriere und auch eine Pause davon macht, wie unzufrieden und unerfüllt wir in unseren Jobs sind, wie man spazieren geht, sich selbst findet und was man von dem zu halten hat, was man dabei entdeckt. Noch nie war unsere Gesellschaft so durchgecoacht und -psychologisiert wie heute. Mit der Folge, dass heutzutage nichts mehr nur ein Sandkorn im Alltagsgetriebe ist, das man am Tresen von Uschis Pilsstube mit seinen Kumpels oder beim Wein mit seiner Freundin entfernt und somit sein Leben selbst wieder auf »Rundlauf« stellt. Nein, im Gegenteil, alles ist gleich Lebenskrise, Sinnkrise, Beziehungskrise, Motivationskrise, Überforderungskrise, Paarkrise, Jobkrise, Elternkrise und Midlife-Crisis – also mindestens eine Katastrophe. Etwas, das wir keinesfalls in Eigenregie verbessern, lösen oder ändern können. Angefangen bei der Politik, die gemessen an den milliardenschweren Beraterhonoraren praktisch gar nichts mehr »allein« kann, bis hin zur Organisation der Sockenschublade, die wir nicht etwa nach einem eigenen oder gar keinem System ordnen, sondern unter Aufsicht und Anleitung der globalen Aufräumexpertin Marie Kondo. Partnersuche ohne das Gefühlsordnungs- sowie Ortungssystem von Tinder und Co? Unmöglich heutzutage! Eine Beziehung führen? Ohne die Psychotipps und Gebrauchsanweisungen der Paarcoaches offenbar so riskant, als wolle man mit einem Faltboot den Ozean überqueren.

Wir verlernen dabei nicht nur, unsere Probleme selbst zu lösen, sondern auch einzuschätzen, ob es überhaupt Handlungsbedarf gibt. Ob wir glücklich oder unglücklich sind, ob wir verliebt sind, zurückgeliebt werden – und ob wir damit zufrieden sein können. Ob wir nicht eigentlich ganz in Ordnung sind, so wie wir sind. Oder ob wir wie der kleine Häwelmann im gleichnamigen Märchen von Theodor Storm nicht »mehr, mehr, mehr« sein müssten, und das selbstverständlich mithilfe – ja klar – der professionellen Vorsager, die uns jetzt allüberall unser Leben soufflieren. Sie versprechen uns Sicherheit, Kontrolle, Glück sowie Mitbestimmung bei den Schicksalsmächten. Aber eigentlich sind sie nur die Eintrittskarten in das große Jammertal: die Homebase des Mimimi. Die vielen Lösungsangebote erhöhen ja vor allem die Anzahl der Probleme und machen uns somit nur noch unruhiger, als wir es sowieso schon waren, bevor wir anfingen, uns beraten zu lassen. Wo es immer nur ein »Richtig« zu geben scheint, ist stets auch ein »Falsch« als größtmögliche Bedrohung inbegriffen. Nicht, dass wir hier und da nicht ein wenig Entwicklungshilfe nötig hätten. Und es kann nie verkehrt sein, ein besserer Mensch werden zu wollen. Aber es macht die Menschen erfahrungsgemäß ja nicht glücklicher, wenn man ihnen suggeriert, sie befänden sich immer bloß auf dem Weg, gelangten aber nie ans Ziel. Wo jeder seines Glückes Schmied sein soll, ist nämlich jeder seines Versagens Verursacher. Theoretisch. Praktisch hat die Entlastungsindustrie hier ebenfalls eine verlockende Lösung, indem sie selbst noch das kleinste Problem zur psychologischen Großbaustelle erklärt: Herzschmerz, Melancholie, Trauer, Unsicherheit, Schüchternheit beispielsweise. Was gestern noch normal war, gilt heute schon als krankhaft, dringend behandlungsbedürftig – und liegt damit ganz einfach jenseits unserer Verantwortung.

Zeige deine Wunde, so lautet der Titel einer Installation von Joseph Beuys. Wir haben ihn wörtlich genommen. Wie die It-Bag gehört die Psychomacke mittlerweile zu den Must-haves. Wollte man seine Probleme früher tunlichst verstecken, sind sie diagnostisch hochgetunt längst wichtiger Selbstvermarktungsbaustein: Die Borderlinestörung von Lindsay Lohan, die Depressionen von Britney Spears, das ADHS von Adam Levine (Sänger von Maroon 5), die Zwangsstörung von Bestsellerautor John Green oder Schauspielerin Brittany Snow, die gleich mit einem Triple – Depressionen, Dysmorphophobie, Essstörungen – in die Outingarena trat. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Sicher bedeutet die Anerkenntnis psychischer Erkrankungen einen enormen Quantensprung in der Medizin und für die Betroffenen. Einerseits. Andererseits hat der Psychomarkt seine Produktpalette in einem Umfang erweitert, wie man es sonst nur von chinesischen Weihnachtsdekorationsartikel-Herstellern kennt. Nichts mehr braucht einfach so hingenommen zu werden, alles gehört professionell bearbeitet. Mit der Folge, dass die so dringend benötigten Therapieplätze für psychisch schwer Angeschlagene immer häufiger auf Monate im Voraus von Menschen wie etwa meiner Bekannten belegt sind. Die nun seit mehr als 15 Jahren mit ihrer Therapeutin die Unmöglichkeit bespricht, einen Mann zu finden, der aussieht wie Brad Pitt, wohlhabend, klug, wahnsinnig erfolgreich, humorvoll UND mit ausreichend Freizeit ausgestattet ist, um mit ihr Kochkurse, Opern zu besuchen und Ayurvedakuren zu absolvieren. Ein Unglück, das sie – wie sie meint – einem »emotional abwesenden Vater« verdankt. Man könnte auch sagen: »Reiß dich einfach mal zusammen!«, »Problem erkannt, Problem gebannt!« oder »Schau dir wenigstens mal Klaus-Dieter aus der Buchhaltung an, bevor du enttäuscht bist, dass Brad Pitt schon andere Pläne hatte, als dich zu heiraten«. Das hätte den charmanten Vorteil, dass man das große Grämen allein beenden könnte. Aber es ist offenbar längst zu verlockend geworden, sich mit einem Seufzer der Erleichterung an die breite Brust der »Das-Ich-als-Opfer-Industrie« zu werfen, wie der britische Soziologe Frank Furedi das Phänomen nennt. Es ist wie in der Sparkassenwerbung, in der einer mit »Mein Haus, mein Auto, mein Boot!« protzt. Wie steht man denn da, wenn man nichts weiter zu bieten hat als »Schlecht geschlafen!« oder »Gerade langweilt mich meine Arbeit!«. Und andere längst mit den ganz großen Spielkarten trumpfen – also mit Burn-out, Panikattacken oder ADHS? Was müsste man dagegen alles tun, falls man anfangen würde, sich selbst ans Steuer seines Lebens zu setzen? Man wird schon wahnsinnig müde, sobald man bloß darüber nachdenkt.

Wo alles Unglück neurotisch ist, gibt es außerdem keine Systemfehler mehr, nur noch persönliches Versagen. Nicht mehr die Entlassung ist der Eins-a-Auslöser für die Niedergeschlagenheit, sondern irgendein Defekt, der dafür sorgt, dass man der trostlosen Wirtschaftslage nach und mit Corona nicht mit wahnsinnigem Optimismus und überbordendem Tatendrang begegnet. Nachdem wir andauernd angehalten werden, unser Innenleben mit der Psychotaschenlampe auszuleuchten, kommen wir gar nicht mehr dazu, die äußeren Umstände kritisch zu betrachten. Wir verlernen außerdem, selbst zu entscheiden, ob wir die kleinen und großen Abgründe in unserem Leben nicht vielleicht doch ganz gut selbst managen können. Ob es sich überhaupt um einen Abgrund handelt. Und wenn, ob es nicht auch genügen würde, bloß ein Brett darüberzulegen, damit keiner reinfällt. Kurz: Wir haben die Deutungshoheit über unseren Gefühlshaushalt komplett in Hände gegeben, die davon leben, dass der niemals final aufgeräumt sein darf. Mit sehr betrüblichen Konsequenzen: Wir trauen uns nichts mehr zu. Wir können nicht mal mehr allein entscheiden, ob wir glücklich sind oder nicht. Geschweige denn ganz allein jemanden finden, den wir lieben – oder ohne Anleitung unsere Sockenschublade aufräumen. Wir haben für alles jemand, der das für uns erledigt und uns vor allem sagt, ob das so auch optimal ist. Wir wurden emotional entmachtet und das hat uns zu unerträglichen Jammerlappen gemacht. Wo alles nur dauernd besser werden soll, ist ja nichts einfach mal gut. Immer geht es nur darum, was uns noch fehlt: der optimale Schlaf, die ideale Performance beim Daten, die perfekten Kinder und das so kostbare Gute-Mutti-Gefühl. Nie dürfen wir einfach leidlich zufrieden mit uns sein. »Wieso kann ich nicht einfach so scheiße bleiben, wie ich bin?!«, fragte kürzlich verärgert ein Bekannter angesichts des ganzen Optimierungswahns. Genauso gut hätte er sich dazu bekennen können, sich in ein Tretboot verliebt zu haben. Alle waren sichtlich befremdet über einen derart bemerkenswert unterentwickelten Drang, noch mehr aus dem großen Lebenskuchen herausholen zu wollen. Aber auch beeindruckt von dem, was heutzutage offenbar als das letzte große Wagnis gilt: es allein zu können. Die Verantwortung für sein Leben selbst zu übernehmen, ganz eigenmächtig zu entscheiden, wann es gut ist und was man braucht, um zufrieden zu sein. Das ist schwer. Zugegeben. Denn in dem Maß, indem man uns die totale Kontrolle verspricht, verlernen wir ja...

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