Die Zukunft nach Corona - Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert

Die Zukunft nach Corona - Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert

von: Matthias Horx

Ullstein, 2020

ISBN: 9783843724487

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 3155 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Zukunft nach Corona - Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert



Wenn die Götter tagen


Über die innere Semantik von Krisen

Ich stelle mir vor, die Götter wären im Herbst 2019 zu ihrer jährlichen Hauptversammlung zusammengekommen. Sagen wir: auf dem Olymp. Zeus, der die Chefposition in diesem himmlischen Management-Think-Tank einnimmt, eröffnet die Versammlung. Er schüttelt nachdenklich den Kopf.

»Ich mache mir Sorgen um die da unten. Ich finde, das kann so nicht weitergehen. Immer dieser Streit, diese Unruhe, diese halbgaren Konflikte. Sie haben volle Supermärkte, Flugzeuge, die überall hinfliegen, mehr als genug Kalorien. Aber die sind vollkommen durcheinander! Konfus. Rennen wie die Idioten hin und her, in alle möglichen Richtungen. Und was mir am meisten auf die Nerven geht, ist dieses ewige Genörgele, diese Negativität! Sie beschweren sich dauernd. Auch über uns!«

Schweigen.

»Vielleicht sollten wir wieder mal einen Versuch mit Güte und Vernunft wagen …«, wirft Hera vorsichtig ein.

Ein Stöhnen in der Göttergruppe. Augenverdrehen. Vernunft? Wie soll das gehen?

Aus dem Hintergrund meldet sich eine strenge Stimme. »Wie wärs mit einer ordentlichen Katastrophe? Aber so richtig!«

»Hm«, brummelt Zeus, »was schlägst du vor? Bitte nicht wieder Großvulkanausbruch, das hatten wir schon vor 73 000 Jahren –Toba. Oder Tsunami, Hungersnot, Heuschrecken … Hör auf. Das bringt nichts.«

»Wie wärs mit atomar?«, schlägt der Gott aus der zweiten Reihe vor. Er ist hager und trägt einen schwarzen Anzug. Ist es Thanatos? Oder Morpheus, der Gott der Träume?

»Lieber nicht«, sagt Zeus, »ich mag dieses Zeug nicht. Eklig. Kein Gottstandard.«

»Aliens? Kometen?« Das ist Apollon, der heute nicht seinen freundlichsten Tag hat.

»Funktioniert nicht. Das mit den Aliens haben wir schon 1947 versucht. Und Kometen kriegen wir so schnell nicht hin, außer ein paar Fly-bys.«

Die Götter brüten. Früher hatten sie auch schon mal mehr Mittel.

»Wenigstens Krieg?«

»Machen wir ja schon, Syrien und so. Afghanistan. Führt nicht viel weiter.«

»Seuchen?«

Schweigen im Götterrund.

»Hm«, antwortet Zeus. »Vielleicht. Aber nicht dieses Pest-Ding oder Ebola. Wir brauchen eine echte Innovation. Etwas Kompliziertes, das weltweit leicht zur Anwendung kommt.«

»Etwas Komplexes …«, sagt der dünne, elegante Gott im schwarzen Anzug. »Ich habe da eine Idee …«

»Na komm schon!«

»Eine Nonkalypse«3, sagt der dünne Gott.

Ich glaube nicht an Götter, die uns Schicksale und Prüfungen verordnen. Das sind symbolische Repräsentationen, die unsere Spezies im Laufe der Evolution erlernt hat, um sich die Welt in ihren widerstreitenden Kräften zu erklären. Ich glaube auch nicht an die »Rache der Natur«. Das ist, ähnlich wie die »Künstliche Intelligenz«, eine Projektion ein sogenannter Anthropomorphismus. So, wie wir dazu neigen, auf Roboter (oder Alexa) eigene Intentionen zu projizieren und mit ihnen wie mit Menschen zu kommunizieren, unterstellen wir der Natur Absichten und Strafgerichte.

Aber ein Virus hat keine Agenda. Er verfolgt keinen Plan und kein pädagogisches Konzept. Er will überleben, ja, noch nicht einmal das er reproduziert lediglich seinen Code, solange es geht (letztlich sind Viren nichts anderes als ein DNA-Code, der unsere Zellen »hackt«). Trotzdem kann er uns auf etwas hinweisen. Sein Code dringt auf vielfältige Art und Weise in unsere Kultur ein und hinterlässt dort einen weiteren gesellschaftlichen Code eine Codierung, die unsere Kultur verändert.

Erstaunlich ist ja, dass Gott und die Religionen in ihrer bekannten und institutionalisierten Form in dieser Krise kaum eine Rolle spielen. Die Kirchen sind leer, weil sie leer sein müssen, aber auch die Predigten im Internet wirken auf eine seltsame Weise entleert. Der einsam betende Papst im Petersdom wirkt verlassen, von Gott, aber mehr noch von sich selbst, von der Macht des Religiösen. Warum ist das so?

Vielleicht liegt es daran, dass diese Krise tatsächlich eine andere Struktur, eine andere Konfiguration hat. Religiosität im klassischen, herkömmlichen Sinne berührt ja immer die Verlorenheit des Menschen, seine Hilflosigkeit. Aber in dieser Krise sind eher Krankenschwestern die Engel, Mediziner oder Laborforscher die Götter und die Virologen die Deuter. Das spezifische Wesen dieser Krise ist, dass sie uns zwar einschränkt, aber uns nicht vollkommen hilflos macht, wie etwa ein Krieg, bei dem unser Leben absolut und radikal zur Disposition steht. Zwar sind Menschen vom Tode bedroht, zwar verlieren wir die Kontrolle über vieles, was wir gewohnt waren, aber gleichzeitig setzt die Krise einen anderen Impuls in unser Leben: eine Offenbarung über uns selbst. Diese Krise hat in ihrem Kern etwas Emanzipatorisches. Sie bringt uns ins Handeln, in die Aktivität. In einen Mindshift.

Die Tiefenkrise


Wie lassen sich Krisen voneinander unterscheiden und in ihrem »Zukunftsgehalt« verstehen? Dazu ist es zunächst wichtig, ihre Tiefe und ihre symbolische Kraft zu bestimmen.

Unser Leben wird von Systemen unterschiedlicher Art bestimmt. Je nachdem, welche Ebene unseres Da-Seins von einer Krise berührt und beeinflusst wird, messen wir ihren Tiefegrad. Diese Systeme sind:

  • Alltag (Rituale, Gewohnheiten, Normen)
  • Soziales Leben (Verhaltens-/Kommunikationsweisen)
  • Institutionen
  • Technologie
  • Wirtschaft
  • Politiksystem
  • Globales (politisches und ökonomisches) System
  • Natur

An dieser Liste lässt sich feststellen, wie mehrdimensional die COVID-Krise wirkt. Die Krise nach dem 11. September etwa, die zu einer jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus führte, hatte Auswirkungen auf die globale Politik, sie führte zu teils sinnlosen Kriegen und großen Verängstigungen durch Terrorismus. Aber diese Angst drang nur selten in die tieferen Schichten unserer Kultur oder in unseren Alltag vor. Die Bankenkrise von 2009 betraf das Finanzsystem und führte zu einigen Pleiten, blieb aber weitgehend auf einer eher abstrakten ideologischen Ebene. Sie führte vor allem zu Empörungen, ähnlich wie bei der »Eurokrise« und der »Flüchtlingskrise« – beide waren sie vor allem Krisen der Politik und des medialen Systems, das zum Echoraum geschürter Ängste wurde. Die Auswirkungen von Erregungen und Hysterien waren womöglich größer als deren eigentlichen »Ursachen«, über die ein heilloser polarisierter Streit entbrannte.

Die COVID-Krise greift jedoch mit radikalen Veränderungen direkt in unser Alltagsleben ein: in unsere sozialen Verhaltensformen, in die Kommunikation, in unser Verhältnis zu Politik und Staat. Sie betrifft und disruptiert Wirtschaft und führt mit Sicherheit zu Veränderungen im globalen Machtsystem. Sie verändert auch unser Verhältnis zur Technologie und wird zudem unser Finanzsystem modifizieren (durch unfassbar große Summen neuen Geldes). Der Virus erzeugt auch eine neue Konfrontation in unserem Verhältnis zur Natur. Vor allem aber wirkt diese Krise auf das Kultur-System – das Feld der Meme und Ideen, der expliziten und impliziten Codes, die die Gesellschaft zusammenhalten (oder spalten).

Im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg und dem Systemwandel hin zu einem westlich-liberalen Gesellschaftssystem ist die COVID-Krise natürlich nicht im Ansatz so zerstörerisch. Unsere Großeltern erlebten eine in Trümmer gefallene Welt, Millionen von Menschen wurden traumatisiert. Eher vergleichbar ist die COVID-Krise paradoxerweise mit einem Ereignis, das gar nicht als Krise wahrgenommen wurde, aber im Grunde doch eine war: dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs. Dieser »Event« disruptierte eine geistige und ökonomische Nachkriegsordnung, in der sich die Gesellschaftsformen und Lebensweisen über 40 Jahre lang geformt und stabilisiert hatten. Wie wir heute wissen, erzeugte dieser Wandel, der als Triumph gefeiert wurde, auch Opfer, er hinterließ chronische Wunden und Verletzungen im sozialen Gefüge, die bis heute nie ganz und nicht überall geheilt wurden.

Der Echoraum der COVID-Krise ist also besonders groß: global, mental, ökonomisch, sozial. Und Krisen sind nun mal das, was die Weltgeschichte, die Geschichte der humanen Zivilisation, vorantreibt. Krisen offenbaren und beschleunigen latente Prozesse, disruptieren vorhandene Systeme, wälzen Herrschaftsverhältnisse um. Sie treiben neue Technologien voran und verlangsamen Dynamiken, an die man sich gewöhnt hatte. Auf diese Weise erzeugen sie Bifurkationen, Ent-scheidungen über den Zukunftsweg.

Dabei gibt es immer zwei Möglichkeiten. Entweder die Systeme, die von der Krise betroffen sind, gehen in die Regression. Das heißt, sie vermindern ihre Komplexität. Das wäre etwa im Szenario einer »tribalen Regression« der Fall, also bei einer radikalen Renationalisierung, in der die humane Zivilisation wieder in Stämme zerfällt....

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