Die Gesellschaft der Anderen

Die Gesellschaft der Anderen

von: Naika Foroutan, Jana Hensel

Aufbau Verlag, 2020

ISBN: 9783841225580

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 3887 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Gesellschaft der Anderen



JH: Ich habe Sie einen Tag nach dem Attentat von Hanau angerufen. Wir kannten uns zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile. Ich hatte ein Interview mit Ihnen über Ihre Studie zu ostdeutsch-migrantischen Analogien geführt und ein paar Wochen später stellten wir dann fest, dass es lohnenswert sein könnte, sich einmal ausführlicher der Frage zuzuwenden, ob und wie sich Deutschland aus ostdeutscher und migrantischer Perspektive erzählen ließe. Dieser Gedanke hat uns nun für dieses Buch zusammengeführt. Als ich Sie am 20. Februar 2020 anrief, ging es mir aber in erster Linie darum, zu erfahren, wie es Ihnen nach den rassistischen Morden an acht Männern und einer Frau ging.

NF: Ich erinnere mich genau an unser Telefonat. Das war eine sehr solidarische Geste von Ihnen. Natürlich ist es so, dass man sich nach einer solchen Tat in einem emotionalen Ausnahmezustand befindet. Auch wenn es niemanden in den migrantischen Communitys überrascht hat, dass diese Morde geschehen konnten. Sie sind vorher geschehen und werden sicherlich wieder geschehen. Die Toten von Hanau stehen in einer langen Liste von in Deutschland durch rassistischen Terror Ermordeten.

JH: Es ist in den vergangenen Jahren immer mehr zu einem Zeichen des Protests, Respekts und Anstands geworden, die Namen der Opfer von rassistischen Gewalttaten zu nennen: In Hanau endete das Leben von Gökhan Gültekin, 37 Jahre, seine Freunde nannten ihn Gogo; Sedat Gürbüz, Besitzer der Shisha-Bar »Midnight«, 30 Jahre; Said Nesar Hashemi, angehender Maschinen- und Anlagenführer, 22 Jahre; Mercedes Kierpacz, 35 Jahre, die in der »Arena Bar« gearbeitet hat und Mutter zweier Kinder, darunter eine dreijährige Tochter, war; Hamza Kurtović, 20 Jahre, der gerade seine Ausbildung abgeschlossen hatte, Vili Viorel Păun, 23 Jahre, der bei einer Kurierfirma gearbeitet hat; Fatih Saraçoğlu, Kammerjäger und Schädlingsbekämpfer, 34 Jahre; Ferhat Unvar, 22 Jahre, der gerade im Begriff war, seine eigene Heizungsinstallationsfirma zu gründen und Kaloyan Velkov, 33 Jahre, Vater eines siebenjährigen Sohnes. – Ihren Worten entnehme ich, dass Sie noch immer tief getroffen sind, obwohl Ihnen, wie Sie ja selbst sagen, ein solcher Anschlag zu keinem Zeitpunkt unwahrscheinlich erschienen ist.

NF: Ich habe immer gehofft, dass Deutschland irgendwann aufhören würde, ein Land zu sein, in dem Menschen, die aussehen wie die Ermordeten, die Namen oder einen Glauben haben wie sie, Angst haben müssen. Davon sind wir weit entfernt. Man kann natürlich Momente herauspicken, die, sagen wir, in den letzten 30 Jahren besonders bedrückend waren, wie Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, die Keupstrasse in Köln, Nürnberg, Hamburg, München, Kassel, wo der NSU mordete, Halle, aber das Schlimme ist: Sie addieren sich zu einer subkutanen Grundahnung, die sich Jahr für Jahr negativ verfestigt. Immer stärker. Insofern ist Hanau kein Ereignis, in dem irgendetwas kulminiert, sondern eines, das sich einschreibt in ein Kontinuum.

JH: Wie und wann hat Sie die Nachricht des Anschlags erreicht?

NF: Am späten Abend des 19. Februar habe ich die Nachricht auf einem Newsticker gelesen und zunächst gedacht, zwei verfeindete Clans hätten sich in der Innenstadt von Hanau bekämpft. So wird es vielleicht nicht nur mir gegangen sein, denn seit geraumer Zeit gibt es eine starke mediale Aufmerksamkeit für die Clan-Kriminalität in Deutschland. In diesem Zusammenhang werden auch immer wieder Bilder von Shisha-Bars gezeigt. Dieses Framing, also der Rahmen, in dem Bilder platziert werden, wirkt über die Zeit nach und bildet, wie der französische Philosoph Michel Foucault sagt, eine »Archäologie des Wissens«. Demnach entsteht durch das Sammeln und Verwerten von Informationen ein großes Reservoir an Bildern, das sich zu einem jederzeit abrufbaren Wissen verbindet. Offensichtlich gab es das in meinem Kopf auch und ich habe es im ersten Moment falsch abgerufen. Denn unser Wissen muss nicht richtig sein, um eine Wirklichkeit zu konstruieren.

JH: Und wann wussten Sie, was tatsächlich passiert war?

NF: Am nächsten Morgen. Im Laufe der Nacht stellte sich heraus, dass es sich um einen rassistischen Anschlag handeln könnte. Generalbundesanwalt Peter Frank hatte die Ermittlungen übernommen. In den Medien wurden die ersten Bilder gezeigt. Ich konnte diejenigen sehen, die um die Opfer trauerten, und mir wurde klar: das ist ein mir zumindest emotional vertrautes Milieu.

JH: Was meinen Sie mit vertraut?

NF: Allein die Shisha-Bars, die immer wieder gezeigt wurden: »Midnight« und »Arena Bar & Café« mit dem angeschlossenen »24/7 Kiosk«. Das Ambiente ist typisch für westdeutsche Innenstädte. Und die Namen der Orte auch. Dort gehen normale Leute hin und das sind in westdeutschen Innenstädten heute zum großen Teil Migranten. Das sind nicht meine Orte, ich bin zu alt dafür, aber mein Sohn, jüngere Verwandte, Freunde und Bekannte verbringen dort manchmal ihre Freizeit. Tatsächlich hat sich in den Shisha-Bars seit einiger Zeit einer Art Gegenkultur etabliert, weil migrantische Jugendliche an den Clubs immer noch häufig abgewiesen werden. Sie kommen nicht durch die Tür. Die Security weist sie ab, weil sie die falsche Haut- oder Haarfarbe haben oder den falschen Style, und damit ein Verhalten assoziiert wird, das in den Clubs unerwünscht ist.

JH: Die Berliner Journalistin Şeyda Kurt hat auf Twitter am Tag nach dem Anschlag Shisha-Bars als Zufluchtsort und Safe-Spaces für rassifizierte Menschen bezeichnet.

NF: Gleichzeitig sind es ganz normale Orte, einige Hundert allein in Hessen. Menschen, die aussehen wie Migranten, stellt sich dort nicht die Frage, komme ich rein oder nicht, sie haben immer Zugang. Da steckt auch kein Exzeptionalismus dahinter. Es geht ihnen nicht darum, dort eine Art Parallelwelt aufzubauen. Dass gerade diese Orte in Hanau angegriffen wurden, hat auch etwas damit zu tun, dass sie so stark kriminalisiert worden sind. Erst kommt die Kriminalisierung und dann der Moment, in dem Kriminalisierung ins kollektive Bewusstsein einsickert und viele Menschen Shisha-Bars tatsächlich vor allem mit Drogen, Clans und Mafia in Verbindung bringen, bewusst oder unbewusst, so, wie auch ich es zunächst tat. Niemand ist von diesem Framing befreit. Die Kriminalisierung von Orten und sozialen Gruppen ist ein Prozess, der ungeheuer schnell greift. Der Mechanismus, der dahinterliegt, heißt Versicherheitlichung, und bedeutet, dass alles durch die Brille der Herstellung von Sicherheit gesehen und dadurch als potenziell kriminell geframed wird.1 Wenn durch Praktiken wie Racial Profiling, also Personenkontrollen auf Basis von bestimmten Haut- oder Haarfarben oder Razzien an bestimmten Orten, das Gefühl eines unsicheren Ortes, eines kriminellen Umfeldes geschaffen wird und man das wiederum mit Migration in Verbindung bringt, erscheint Migration als Sicherheitsproblem. Auf Shisha-Bars trifft das in hohem Maße zu. Bei vielen Razzien wurde dort tatsächlich unversteuerter Tabak gefunden. Das ist nicht legal, ganz klar. Fitness-Center, in denen mit Amphetaminen gehandelt wird, oder Techno Clubs, in denen Drogenkonsum auch nicht gerade unüblich ist, werden aber im Gedächtnis nicht als kriminelle Milieus gerahmt. Unversteuerten Tabak zu verkaufen ist Steuerhinterziehung und ein Straftatbestand. Aber in der Wahrnehmung vieler Menschen ist Steuerhinterziehung, wenn es Deutsche wie Uli Hoeneß machen und sogar dafür ins Gefängnis müssen, irgendwie ein Kavaliersdelikt, sie bleiben nicht als Verbrecher in Erinnerung. Shisha-Bars und ihr Publikum hingegen werden latent kriminalisiert.

JH: Die Genealogie vieler Anschläge ist mit Orten verbunden, die zuvor als ›fremd‹ markiert wurden und von denen wir wissen, dass sie entweder von Menschen, die migrantisch gelesen werden oder jüdisch sind, frequentiert werden oder in ihrem Besitz sind. Denken wir nur an die Morde des NSU oder den Anschlag im Oktober 2019 in Halle, als der Attentäter, nachdem die Tür der Synagoge zum Glück verschlossen blieb, zum naheliegenden Döner-Imbiss ging, um dort zu morden.

NF: Allein im Jahr 2018 wurden 1799 antisemitische Taten registriert, davon waren laut Bundeskriminalamt 1603 rechtsextrem motiviert. Für das Jahr 2019 geht die Bundesregierung von 184 Fällen islamfeindlich motivierter Angriffe auf Moscheen, muslimische Religionsstätten und religiöse Repräsentanten aus. Das bedeutet, jeden Tag gibt es mehr als vier antisemitische Straftaten in Deutschland und jeden zweiten Tag einen islamfeindlichen Angriff.2 In Hanau standen Freizeitorte im Visier. Das Ziel dahinter ist: Einerseits weiß der Mörder, dass er die Menschen, die er zu töten plant, an diesen Orten konzentriert antrifft. Zum anderen gelingt es ihm auf diese Weise, ein Gefühl der Angst in die Normalität zu säen. Sie sagten es gerade, auch der Attentäter von Halle ging nach dem missglückten Anschlag auf die Synagoge zu einem Döner-Imbiss. Wir kennen diese Angriffe auf die Normalität vom islamistischen Terror. Dort geht es auch darum, die Alltagswelt anzugreifen – den Supermarkt, das Café, den Bahnhof – und so Verunsicherung und Angst in die Bevölkerung zu tragen. Langfristiges Ziel ist dabei immer, soziale Gruppen gegeneinander aufzustacheln und das gesellschaftliche Klima zu vergiften, um eine weitere Entfremdung sowie eine Art emotionalen...

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