Keine Regeln - Warum Netflix so erfolgreich ist

Keine Regeln - Warum Netflix so erfolgreich ist

von: Reed Hastings, Erin Meyer

Ullstein, 2020

ISBN: 9783843722681

Sprache: Deutsch

280 Seiten, Download: 4487 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Keine Regeln - Warum Netflix so erfolgreich ist



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EIN HERVORRAGENDER ARBEITSPLATZ BESTEHT AUS GROßARTIGEN KOLLEGEN

In den Neunzigerjahren lieh ich mir oft VHS-Videos bei einer Blockbuster-Filiale in der Nachbarschaft aus. Ich nahm immer gleich zwei oder drei und brachte sie rasch zurück, um keine Verzugsgebühren zu riskieren. Eines Tages fand ich beim Aufräumen unter einem Stapel Papiere auf dem Wohnzimmertisch eine Kassette, die ich vor Wochen ausgeliehen hatte. Als ich den Film in die Videothek zurückbrachte und von der Angestellten erfuhr, wie hoch der Säumniszuschlag war, kam ich mir wie ein Idiot vor: Meine Nachlässigkeit kostete mich 40 Dollar!

Irgendwann begann ich darüber nachzudenken. Die Verzugsgebühren machten den Großteil des Ertrags von Blockbuster aus. Aber wenn dein Geschäftsmodell darauf beruht, deinen Kunden das Gefühl zu geben, etwas Dummes getan zu haben, darfst du kaum erwarten, sie an dich zu binden. Gab es keine andere Möglichkeit, sich daheim Filme anzusehen, ohne schmerzvoll spüren zu müssen, viel zu viel für dieses Vergnügen zu bezahlen, wenn man einen Film zurückzugeben vergaß? Anfang 1997, als Pure Software übernommen wurde, begannen Marc Randolph und ich, über die Möglichkeit nachzudenken, Filme per Post zu verleihen. Amazon hatte Erfolg mit Büchern. Warum also nicht auch Filme über das Internet vertreiben? Wir konnten unseren Kunden anbieten, VHS-Kassetten über unsere Webseite auszuleihen und sie per Post zurückzuschicken. Dann stellten wir fest, dass Versand und Rücksendung der Videos jeweils 4 Dollar kosten würden. Damit würde es kein großes Geschäft werden, es war einfach zu teuer.

Dann erzählte mir ein Freund von einer neuen Erfindung, die im Herbst auf den Markt kommen würde, namens DVD. »Es ist wie eine CD, aber es passt ein ganzer Film drauf«, erklärte er mir. Ich lief zur Post und schickte mehrere CDs an mich selbst (eine DVD konnte ich für meinen Test noch nicht finden). Der Versand kostete 32 Cent pro CD. Dann kehrte ich in meine Wohnung zurück und wartete ungeduldig auf die Ankunft meiner Sendung. Zwei Tage später lagen die CDs unbeschädigt in meinem Briefkasten.

Im Mai 1998 nahm Netflix den Betrieb auf, der erste Online-DVD-Verleiher. Wir hatten dreißig Mitarbeiter und boten 925 Filme an, das heißt praktisch sämtliche zu jener Zeit auf DVD verfügbaren Filme. Die Geschäftsführung übernahm zunächst Marc. Im Jahr darauf trat er sie an mich ab und übernahm eine Funktion im Management.

Anfang 2001 erreichten wir die Schwelle von vierhunderttausend Abonnenten, mittlerweile hatten wir hundertzwanzig Mitarbeiter. Ich versuchte, die Fehler zu vermeiden, die ich bei der Führung von Pure Software begangen hatte, und obwohl wir diesmal auf ein Übermaß an Regeln und Kontrollmechanismen verzichteten, konnte man Netflix nicht unbedingt als großartigen Arbeitsplatz bezeichnen. Aber wir wuchsen, die Geschäfte liefen gut, und unsere Mitarbeiter beklagten sich nicht.

LEHREN AUS EINER KRISE

Im Frühjahr 2001 begann eine Krise. Die erste Internetspekulationsblase platzte, und ungezählte »Dotcoms« brachen zusammen und verschwanden. Das Wagniskapital versiegte, und wir verloren von einem Tag auf den anderen die Fähigkeit, die zusätzlichen Mittel aufzutreiben, die wir brauchten, um den noch längst nicht rentablen Betrieb aufrechtzuerhalten. Die Stimmung in der Firma war mies, und sie sollte noch weiter sinken: Wir mussten uns von einem Drittel unserer Belegschaft trennen.

Ich setzte mich mit Marc und Patty McCord zusammen, die schon bei Pure Software mit mir zusammengearbeitet hatte und die Personalabteilung leitete. Wir sahen uns die Leistungen jedes einzelnen Mitarbeiters an. Es gab keine offenkundigen Low Performer. Also unterteilten wir die Belegschaft in zwei Gruppen: die 80 leistungsfähigsten Mitarbeiter, die wir behalten würden, und 40 weniger überzeugende, denen wir kündigen würden. Jene Mitarbeiter, die außergewöhnlich kreativ waren, exzellente Arbeit leisteten und gut mit anderen zusammenarbeiteten, landeten sofort in der Gruppe derer, die bleiben sollten. Das Problem war, dass es viele Grenzfälle gab: Einige Leute waren wunderbare Kollegen und Freunde, brachten jedoch eher zufriedenstellende als herausragende Leistungen. Andere arbeiteten wie verrückt, verfügten jedoch nur teilweise über eigenes Urteilsvermögen und brauchten klare Anweisungen. Ein paar Mitarbeiter waren außerordentlich talentiert und leistungsfähig, hatten jedoch eine eher pessimistische Einstellung oder neigten zum Meckern. Die meisten von ihnen würden gehen müssen. Es würde nicht leicht werden.

In den Tagen vor den Entlassungsgesprächen wies mich meine Frau darauf hin, dass ich extrem angespannt wirkte. Sie hatte recht: Ich befürchtete, dass die Stimmung im Büro einbrechen würde. Ich war sicher, dass diejenigen, die bleiben sollten, nach dem Ausscheiden ihrer Freunde und Kollegen glauben würden, dass es diesem Unternehmen an Loyalität seinen Mitarbeitern gegenüber mangelte. Es war unvermeidlich, dass sie wütend reagieren würden. Noch schlimmer war, dass die »Bleibenden« zusätzlich die Arbeit derer übernehmen müssten, die gekündigt worden waren, was zu Verbitterung führen würde. Wir waren bereits knapp bei Kasse. Konnten wir uns einen weiteren Einbruch der Arbeitsmoral leisten?

Der Tag der Entlassungen kam, und wie erwartet wurde es scheußlich. Die Mitarbeiter, die es traf, begannen zu weinen, schlugen Türen zu und schrien ihre Wut hinaus. Am Mittag war alles erledigt, und ich rüstete mich für die zweite Hälfte des Sturms: die Gegenreaktion der verbliebenen Mitarbeiter … Aber abgesehen von ein paar Tränen und unübersehbarem Mitleid mit den Opfern blieb es vollkommen ruhig. Und innerhalb weniger Wochen wurde die Atmosphäre deutlich besser – was ich mir zunächst nicht erklären konnte. Wir arbeiteten im Kostensenkungsmodus und hatten gerade ein Drittel der Belegschaft auf die Straße gesetzt, doch die Firma war plötzlich von Leidenschaft, Energie und neuen Ideen erfüllt.

Einige Monate später begann die Weihnachtszeit. In jenem Jahr waren DVD-Player ein beliebtes Geschenk, und Anfang 2002 wuchs unser Geschäft mit den DVD-Abonnements per Post erneut kräftig. Plötzlich bewältigten wir sehr viel mehr Arbeit – mit 30 Prozent weniger Mitarbeitern. Zu meiner Verblüffung erledigten die verbliebenen achtzig Mitarbeiter sämtliche Aufgaben mit einer bis dahin ungekannten Leidenschaft. Sie arbeiteten länger, aber die Stimmung war ausgezeichnet. Und nicht nur unsere Mitarbeiter waren zufriedener: Wenn ich am Morgen aufwachte, konnte ich es nicht erwarten, ins Büro zu kommen. Zu jener Zeit nahm ich Patty McCord jeden Tag mit zur Arbeit, und wenn ich bei ihrem Haus in Santa Cruz vorfuhr, sprang sie mit einem breiten Grinsen ins Auto: »Reed, was ist hier los? Ist das wie verliebt zu sein? Sind das nur ein paar komische Chemikalien, deren Effekt bald nachlassen wird?« Patty hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Es war, als wäre das ganze Büro voller Leute, die bis über beide Ohren in ihre Arbeit verliebt waren.

Ich bin kein Freund von Entlassungen, und zum Glück war so etwas bei Netflix seit damals nicht mehr erforderlich. Aber in den Tagen und Monaten nach der Kündigungswelle von 2001 entdeckte ich etwas, was mein Verständnis sowohl der Mitarbeitermotivation als auch der Führungsverantwortung grundlegend änderte. Dies war mein Damaskuserlebnis, ein Wendepunkt in meinem Verständnis der Bedeutung von Talentdichte in Organisationen. Die Lehren, die wir daraus zogen, liegen vielem von dem zugrunde, was Netflix erfolgreich gemacht hat.

Bevor wir uns der Beschreibung dieser Lehren zuwenden, möchte ich Patty McCord angemessen vorstellen, denn sie spielte mehr als ein Jahrzehnt lang eine Hauptrolle in der Entwicklung von Netflix. Ich lernte Patty bei Pure Software kennen. Im Jahr 1994 rief sie aus heiterem Himmel in der Firma an und verlangte, mit dem Geschäftsführer zu sprechen. Zu jener Zeit war meine jüngere Schwester für das Telefon zuständig, die Patty direkt zu mir durchstellte. An ihrem Tonfall erkannte ich, dass sie in Texas aufgewachsen sein musste. Sie erklärte mir, sie arbeite gegenwärtig in der Personalabteilung von Sun Microsystems, würde aber gerne als Personalchefin zu Pure Software wechseln. Ich lud sie ein, auf einen Kaffee vorbeizuschauen.

In der ersten Hälfte unseres Gesprächs verstand ich kein Wort von dem, was Patty sagte. Ich fragte sie nach ihrer Vorstellung von Mitarbeiterführung, und sie antwortete: »Ich glaube, jeder einzelne Mitarbeiter sollte die Möglichkeit haben, eine Trennlinie zwischen seinen Beiträgen für das Unternehmen und seinen individuellen Ambitionen zu ziehen. Als Leiterin der Personalabteilung würde ich mich gemeinsam mit Ihnen, dem Geschäftsführer, bemühen, den Intelligenzquotienten unserer Führung zu erhöhen und das Mitarbeiterengagement zu verbessern.« Mir wurde ganz schwindelig. Ich war jung und unerfahren, und als sie fertig war, fragte ich sie: »Reden alle HR-Leute so? Ich habe kein Wort von dem verstanden, was Sie gesagt haben. Wenn wir zusammenarbeiten sollen, werden Sie aufhören müssen, so zu sprechen.«

Patty empfand das als beleidigend – und sagte es mir ins Gesicht. Als ihr Mann sie am Abend fragte, wie das Interview gelaufen sei, sagte sie: »Schlecht. Ich bin in Streit mit dem CEO geraten.« In Wahrheit hatte mir gefallen, dass sie mir genau gesagt hatte, was sie von mir hielt. Also gab ich ihr den Job, und seitdem pflegen wir eine offene, stabile Freundschaft, die auch nach ihrem Ausscheiden bei Netflix andauert. Das liegt zum Teil vielleicht daran, dass wir so verschieden sind: Ich bin ein mathematisch denkender Software-Ingenieur, sie ist eine Kennerin des menschlichen...

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