Sturmwand - Ein Normandie-Krimi

Sturmwand - Ein Normandie-Krimi

von: Benjamin Cors

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2020

ISBN: 9783423436854

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 1118 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Sturmwand - Ein Normandie-Krimi



Erster Monolog


Ich habe mir die folgenden Worte gut überlegt.

Ich habe sie abgewogen, Tausende Male, weil ich sicher sein wollte, dass sie genug Gewicht haben. In alle Einzelteile habe ich sie zerlegt, sie betrachtet, sie gewälzt, in meinem Kopf. Geschliffen habe ich sie, gefeilt und glatt gerieben, ich habe sie abgeklopft, mein Ohr an ihren Klang gewöhnt und meine Stimme an ihre Aussprache.

Vier Wörter. Das muss reichen.

Nicht für den Anfang. Aber für das Ende.

Ich kann mich an das Lächeln erinnern, das der Spiegel mir zeigte, als ich sie zum ersten Mal sagte und hörte, diese vier Wörter. Ich lächle nicht oft, wirklich nicht, aber diesmal konnte ich nicht anders.

Sie fühlten sich sofort richtig an, gut. Sie wärmten mich, drängten sich nicht auf, nahmen sich nicht zu ernst und entfalteten doch ihre Wirkung.

Ein Gruß zum Abschied.

Das sollte es sein.

Und nun bist du es also, dem sie zufliegen, dir sollen sie gelten, dir flüstere ich sie ins Ohr. Sie werden beginnen, dich zu zerstören, ganz langsam, aber unaufhaltbar.

Komm also her und höre, was ich sage.

Denn ich habe mir die folgenden Worte gut überlegt.

 

Herzlich willkommen auf Chausey.

 

Beherrscht von den Gezeiten, gefangen inmitten des Wassers, das uns umschließt, wie das Schicksal seine Beute.

Wir riechen das Meer, hören die Möwen und die Kormorane und das Rauschen in unseren Köpfen, ich spüre das Flattern deines Herzens, du hörst meine Stimme, ich nehme deine Hand, du zerrst daran. Schließ die Augen so fest du kannst, lass dich von diesem Ort verzaubern, von der Stille um uns herum. Und weine ruhig, während ich dir das Blut von der Stirn wische. Du hättest dich nicht wehren sollen, es hat ja keinen Sinn. Wir sind ganz allein hier.

Du. Ich.

Und er.

 

Es ist dein erster Besuch auf dieser Insel und zugleich dein letzter. Wir beide wissen das und es macht uns zu Verbündeten. Der Wind zerrt an dir und die kalte Luft lässt dich zittern. Oder ist es etwa die Angst? Ich sehe es in deinem Blick, der nach Halt und Hoffnung sucht.

Aber, so leid es mir tut: Hier ist nichts, rein gar nichts, außer Wasser, Felsen, Schlick zwischen den Steinen, dornigen Sträuchern. Falls du einen Silberstreif am Horizont suchst, suchst du vergeblich.

Komm näher, hab keine Scheu! Fürchte dich nicht, es gibt keinen Grund dazu, zumindest jetzt noch nicht. Später wirst du dich ganz deiner Angst hingeben können, aber jetzt sollten wir den Moment genießen, er gehört nur uns!

Ich werde dir sagen, wer ich bin.

Wer ich wirklich bin.

 

Tut sie weh? Die Schlinge, meine ich. Ist sie dir zu fest? Reibt sie auf deiner Haut?

Folge mir einfach. Wir gehen diesen Pfad entlang, ich nehme dich an die Hand, damit du nicht ausrutschst. Wir sollten uns beeilen, wir haben keine Zeit zu verlieren, nicht eine Sekunde! Nicht hier, an diesem gottverdammten Ort, der mir alles genommen hat. Ich weiß, du hast Schmerzen, du bist erschöpft. Aber das ganze Schreien, der Rotz, der aus deiner Nase läuft, um Himmels willen, wofür soll das gut sein? Hier hört dich keiner, und wenn du so weitermachst, dann verpasst du alles.

Und glaub mir, das willst du nicht.

 

Jetzt nicht schwach werden, mein Gott, kann das denn so schwer sein … und du sollst nicht heulen! Ich habe schließlich auch nicht geheult. Geschrien habe ich, das ja, hinauf zu den Sternen. Ich habe geschrien, so laut, bis das Firmament geplatzt ist!

Aber jetzt musst du still sein. Sei ganz ruhig, der Tod ist nicht das Ende. Was für ein lächerlicher Gedanke. Wenn alles verrinnt, der Sand durch die Uhr läuft, die Zeit, das Leben sich dem Ende neigt, dann muss man hartnäckig sein. Nicht aufgeben. Warum gebt ihr nur alle so schnell auf?

Als wäre der Tod das Ende, so etwas Lächerliches! Das ist so schwachsinnig, dass es stinkt wie der abgeschnittene Kopf einer Makrele, der in der Sonne liegt, im Rinnstein, das Blut ist geronnen, er liegt dort seit einer Woche, die Fliegen sind dran, die Maden sind drin, er stinkt, dieser Fischkopf, aber keiner erbarmt sich seiner, sie lassen ihn dort liegen, und als die Augen, die ja längst zerfressen sind, als diese Augen sich plötzlich öffnen, da kriegt es keiner mit.

Und genau das ist das Problem!

Das Problem ist, dass keiner hinsieht, wenn der Tod etwas ausspuckt, es dem Leben zurückgibt. Etwas wie mich. Ich wurde ausgespuckt, der Tod wollte mich nicht.

Aber andere, die wollte er, und ich habe sie ihm gegeben, ich habe sie ihm geben müssen.

Erlaubst du, dass ich mich deshalb kurz verbeuge? Vor dem Leben, vor dem Tod, mit einem spöttischen Lächeln, weil Spott mir so gut steht.

Sieh dich ruhig um, während du mit der Schlinge kämpfst, und mit deinen Tränen. Du sagtest, du warst noch nie hier, das ist wirklich schade. Denn Chausey muss man immer zweimal sehen, bei Ebbe und bei Flut. Das wird dir nicht vergönnt sein, aber wir sollten nicht jammern, man kann nicht alles haben, nicht wahr?

 

Chausey.

Eiland im Meer. Insel im Wind. Archipel unter Wasser. Ein magischer Ort. Woran du das erkennst? Zum Beispiel daran, dass es ganz und gar wahr ist und eben kein Zufall: Chausey hat genauso viele Inseln wie das Jahr Tage. Unglaublich, oder?

365 Felsen, Inseln, Eilande, Brocken, nenn sie, wie du willst. Ich nenne sie: die Welt der Gezeiten. Magisch. Mystisch. Angsteinflößend.

 

Du willst wissen, warum wir hier sind? Warum so ungeduldig? Ungeduld ist eure größte Schwäche. Doch keine Sorge, du wirst bald alles erfahren. Viel mehr, als du je wissen wolltest.

Die Sonne ist untergegangen und das Wasser steigt, siehst du es? Die Gezeiten wissen, wie sie dieses Eiland erobern müssen: nicht im Sturm, nicht drängend und fordernd, vielmehr sachte, behutsam. In einer Stunde wird die Ebbe wieder von dieser Welt Besitz ergreifen, sie wird an den Steinen, an den Muscheln zerren. Diese eine Stunde aber haben wir noch.

Das wird reichen.

 

Jetzt aber ein bisschen schneller, wir haben getrödelt, hinein ins Wasser, das jetzt bereits knietief ist und weiter ansteigt. Unter unseren Füßen fliehen die Krabben, in stummem Protest. Eine Sandbank, ein Felsen. Hinter jedem Felsen auf Chausey steckt eine Geschichte, das darfst du niemals vergessen. Steinerne Gesichter, Fratzen, kleine Elefanten, ja, auch das.

Immer mehr Steine, scharfkantig, unser Blick geht aufs offene Meer, hinauf jetzt, hier ist es noch trocken. Alles geschieht in diesem Augenblick, nichts dürfen wir verpassen. Aber jetzt still!

Setz dich hierhin, hinter diesen Felsen, er schützt dich vor dem Wind. Sieh es mir nach, wenn ich jetzt nur noch flüstere, ich komme ganz dicht an dich heran, diese Worte gehören nur dir, keinem anderen! Hörst du mein Herz, spürst du es schlagen? Hier, leg deine Hand auf meine Brust. Du musst schon aufhören zu schluchzen, du hörst es sonst nicht! Ruh dich kurz aus, atme ein. Es ist jetzt so weit. Ich habe ein Geschenk für dich.

 

Ich bin der Mann, der dir die Augen öffnet.

Nimm meine Hand. Dreh dich um, ich führe dich. Siehst du das Wasser steigen? Siehst du die Möwen tanzen? Sie tanzen für dich, sie heißen dich willkommen auf Chausey, die Wellen, der Wind, die Möwen, der Tod und das Leben.

Hier hinter dem Felsen liegt es, das Geschenk, ich habe es gut verpackt. Du wirst dich freuen. So ist es gut, nicht stolpern, der Strick führt dich, er gibt dir Halt auf deinen letzten Metern.

 

Jetzt sind wir da.

Ein Kreis aus Steinen, mitten im feuchten Sand. Sie nennen ihn Cromlech de l’Oeillet, keiner weiß, warum er hier ist. Seit grauer Vorzeit gibt es ihn schon, und nun ist er mein Geschenk an dich.

Ich weiß, das überwältigt dich, ich sehe es in deinen Augen, aber warum weinst du nur?

Natürlich. Es muss die Freude sein.

Die Wiedersehensfreude.

Zerr nicht so an deinem Strick, er wird dich noch umbringen! Und das wäre nun wahrlich schade.

 

Komm, wir gehen näher heran, lass uns dein Geschenk betrachten, während du keuchst und nach einem Ausweg suchst, während du auf das blickst, was du nicht sehen willst. Aber du musst hinsehen, du kannst den Blick nicht abwenden von der Gestalt, die dort liegt. Inmitten dieses Kreises aus jahrhundertealtem Gestein. Das Wasser steigt, die Flut kommt und mit ihr die Erkenntnis, dass am Ende eben alles stirbt.

So einfach ist das.

 

Gefällt dir mein Geschenk? Genieße es, bald gehört es ganz dir. Genieß die Vorfreude, so wie ich sie seit Jahren spüre. Sieh nur, wie er dich anschaut, immer noch so stark, noch längst nicht gebrochen. Arme Kreatur.

Darf ich deine Haare zurückstreichen, dich küssen, während du zusiehst, wie dieser Mann stirbt?

Er wird dich verlassen, viel zu früh. Aber du brauchst ihn nicht mehr, glaub mir. Sieh ihn dir doch an, wie erbärmlich er da liegt, dem Tode geweiht, weil das Wasser steigt und er nicht mehr rufen kann, weil seine Stimme fort ist, aufgerieben vom Flehen um Hilfe.

 

Schau ihn dir an, deinen Helden. Deinen Krieger. Deinen Nicolas.

 

Wer ich bin, willst...

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