Pflegende Angehörige

Pflegende Angehörige

von: Gabriele Wilz, Klaus Pfeiffer

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2019

ISBN: 9783844427356

Sprache: Deutsch

121 Seiten, Download: 3918 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Pflegende Angehörige



2 Modelle der Pflegebelastung und Bewältigung der Pflegesituation


2.1 Entscheidung zur Pflegeübernahme und Pflegemotivation


Die Aufgaben von pflegenden Angehörigen sind vielfältig und können Aufgaben wie kommunikative und emotionale Unterstützung, Sicherung des Alltagslebens und der Alltagsstruktur, Übernahme vielfältiger organisatorischer und bürokratischer Aufgaben, Begleitung durch die Versorgungsinstanzen oder körpernahe pflegerische Tätigkeiten umfassen. Je nach Erkrankung |14|entsteht die Pflegebedürftigkeit und damit die Anforderungen an den Angehörigen langsam, gegebenenfalls stufenweise (z. B. bei einer demenziellen Erkrankung) oder aber unerwartet und schnell (z. B. nach einem Schlaganfall).

Die Übernahme der Pflegeverantwortung kann aus verschiedenen Motiven, die dem pflegenden Angehörigen nicht unbedingt bewusst sein müssen, erfolgen. Neben Altruismus, egoistischen Motiven, sozialen Normen, moralischen Wertvorstellungen können Dankbarkeit, fehlende Alternativen, finanzielle Gründe und Schuldgefühle ebenfalls bedeutsame Faktoren für die Pflegeübernahme sein. Emotionale Verbundenheit oder Liebe kann, muss aber keine dominante Rolle bei der Versorgung von Angehörigen spielen. Insgesamt möchten Angehörige die Beziehung zum pflegebedürftigen Familienmitglied durch die häusliche Pflegeübernahme in der Regel erhalten und Fürsorge zurückgeben (Reziprozität).

Für einen Großteil der Angehörigen stellt die Pflege des Familienmitglieds einen hohen Wert im persönlichen und/oder Wertesystem des eigenen Kulturkreises bzw. der Herkunftsfamilie dar. Soziale Normen geben eine gewisse Hierarchie der „Erstverantwortung“ vor: So wird bei Paaren zuerst der Partner als verantwortliche Person betrachtet oder bei alleinstehenden oder verwitweten Personen ein erwachsenes Kind. Die verschiedenen beschriebenen Motive können sich überschneiden oder über die Zeit verändern.

Aus Sicht der Commitment-Theorie (Blieszner & Shifflett, 1989) werden persönliches (z. B. Erhalt der Beziehung zu einer geliebten Person), moralisches (z. B. Pflicht als Ehepartner) und strukturelles Commitment (z. B. sozialer Druck, fehlende Alternativen) unterschieden. Ein anderer Blickwinkel, die Motive zur generationenübergreifenden Pflege zu beschreiben, erfolgt anhand von Orientierungstypen (Ziegler, 2000). In familiären Systemen, die sich durch eine hohe Geschlossenheit und Rigidität auszeichnen, wird zwischen einer Aufgaben- und Beziehungsorientierung unterschieden. Die aufgabenorientierten Angehörigen erkennen das Anrecht des Elternteils auf Pflege an („Tradition“) und nehmen gemäß ihrer Statusposition (z. B. als Tochter) die entsprechenden Pflichten auf sich. Sie zeichnen sich durch eine gewisse Selbstständigkeit und Autonomie in der Art der Aufgabenerfüllung, Inanspruchnahme von Hilfen, aber auch durch eine emotionale Distanz zum Gepflegten aus. Bei den beziehungsorientierten Pflegenden findet dagegen eine viel stärkere Konzentration auf die Beziehung zum Elternteil bis zur eigenen Aufopferung und Selbstaufgabe statt. Eine Inanspruchnahme von Pflegediensten wird eher abgelehnt („Festung“). In offeneren und flexibleren Familiensystemen wird zwischen einer Personen- und Verhaltensorientierung unterschieden. Personenorientierte Familiensysteme treten der Pflegesituation eher gemeinsam gegenüber und versuchen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der einzelnen Familienangehörigen, Lösungen zu entwickeln |15|(„Genossenschaft“), die auch eine stationäre Versorgungsform bedeuten kann. Bei dem durch eine Verhaltensorientierung gekennzeichneten vierten Typ stehen die Verabredung und Einhaltung von Abmachungen und Verträgen im Mittelpunkt („Assoziation“). Die Familienmitglieder betrachten sich in hohem Maße als selbstverantwortlich. Die pflegebedürftige Person wird von externen Hilfen wie Pflegediensten unterstützt und verbleibt möglichst lange in der eigenen Wohnung.

Soziale Normen und Werte können die Belastungen der Pflege und das Erkennen und Beachten von Belastungsgrenzen erschweren. Sowohl sehr starke wie auch sehr schwache kulturelle Normen hinsichtlich der Pflegeübernahme können mit einem höheren Belastungserleben in Zusammenhang stehen. So sind stärkere Belastungen und psychische Symptome vor allem bei denjenigen Pflegenden festzustellen, welche aufgrund von Verpflichtungs- und Dankbarkeitsgefühlen (wie z. B. ein Eheversprechen, sich in Zeiten von Krankheit und Pflege gegenseitig zu unterstützen), moralischen oder familiären Normen und (vermuteten) Erwartungen des sozialen Umfelds pflegen, als bei Angehörigen die aufgrund von emotionaler Verbundenheit und Nähe Unterstützung leisten (Losada et al., 2010). Für extrinsisch motivierte Pflegende sind die Belastungen besonders dann ausgeprägt, wenn der Gepflegte nicht die erwartete Dankbarkeit ausdrückt oder es in der Pflegesituation zu Konflikten kommt. Entsprechend zeigen Angehörige, die aufgrund von Schuld oder der Erwartung von anderen pflegen, stärkeren Stress als Angehörige, die intrinsisch motiviert sind. Intrinsisch motivierte Pflegende hingegen berichten eine stärkere Zufriedenheit aufgrund der Pflegeübernahme.

Als besonders belastend kann die Pflege erlebt werden, wenn keine Alternativen zur Übernahme der Pflegeverantwortung wahrgenommen werden. Traditionelle kulturelle Normen bestimmen in diesen Situationen maßgeblich, welche Person in der Familie die Pflege eines älteren Familienmitglieds übernimmt. In vielen Familien wird die Pflegeübernahme nicht transparent erörtert, sondern die Übernahme der Pflege häufig implizit von den Töchtern oder auch Schwiegertöchtern erwartet. Angehörige „geraten“ in die Pflegerolle, ohne vorab Wahlmöglichkeiten eruiert oder die Rollenübernahme reflektiert zu haben. Vor allem Töchter und Schwiegertöchter fühlen sich häufig in die Pflegerolle gedrängt und erleben diese Erwartung als überfordernde Pflicht neben ihrer Ehebeziehung und Hauptverantwortung in der Fürsorge für die eigenen Kinder. Pflegende Ehepartner hingegen nehmen die Pflegeübernahme meist als selbstverständliche Fortsetzung ihrer Beziehung zum Gepflegten wahr. In unhinterfragt übernommenen Pflegesituationen sind Angehörige in der Regel auf die Aufgaben und Belastungen nicht vorbereitet und es besteht ein höheres Risiko, dass Gefühle von Kontrollverlust und Erschöpfungssyndrome entstehen. Angehörige, die sich hingegen bewusst für die Pflege entscheiden, beschreiben in der Regel mehr Erfüllung und Sinngebung |16|durch die neue Aufgabe, fühlen sich besser unterstützt und leiden weniger unter depressiven Symptomen und Stress.

Prinzipiell kann ein bedeutsamer positiver Zusammenhang zwischen der Sinnerfüllung durch die Pflege und der Pflegemotivation angenommen werden. Religiösen Motiven kommt hierbei sowohl bezüglich der Sinnerfüllung als auch hinsichtlich der Pflegemotivation eine besondere Bedeutung zu. Für die Belastung der Pflegenden ist es somit relevant, welche Einstellung sie zu ihrer Pflegerolle finden. Eine Deutung als Lebenssinn oder persönliche Reifung kann sowohl die Bewältigung erleichtern als auch mit einer besseren körperlichen und psychischen Befindlichkeit verbunden sein.

Zusammenfassend verdeutlichen die Befunde, dass für das therapeutische Arbeiten mit pflegenden Angehörigen die Reflexion der Pflegemotivation, auch in Bezug auf das eigene Wertesystem, sehr bedeutsam ist und eine wesentliche Vorbedingung für hilfreiche Veränderungen darstellen kann (vgl. Kap. 4.2.4).

2.2 Pflegebeziehung und Rollenveränderung


Ob die Pflegeübernahme als Verpflichtung oder als Verantwortung aufgrund der emotionalen Verbundenheit bewertet wird, steht maßgeblich mit der prämorbiden Beziehungsqualität in Zusammenhang. Pflegende mit einer positiven prämorbiden und aktuellen Beziehung zum Pflegeempfänger berichten eine geringere Stressbelastung, ein höheres Wohlbefinden und eine höhere Zufriedenheit mit der Pflegesituation. Durch die Pflege kann die Beziehung zum Gepflegten sogar intensiver und als verbessert erlebt werden, wie pflegende Töchter in Bezug auf ihre Mütter in der Studie von Abel (1986) berichten. Pflegende Töchter, die eine positive Beziehungsqualität erlebten, waren zudem weniger stark durch Angstgefühle und Frustration belastet. So bleiben Nähe und Intimität zum Gepflegten trotz der Veränderungen und Belastungen meist erhalten und ermöglichen weiterhin wertvolle gemeinsame Erfahrungen. Im Kontrast dazu bestehen jedoch auch problematische Situationen, insbesondere wenn pflegende Kinder (meist Töchter) ein Familienmitglied pflegen, das in der Vergangenheit sexuell oder emotional missbräuchliche Handlungen ausgeübt hat. Bei dieser...

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