Sturm über der Villa am Elbstrand - Roman

Sturm über der Villa am Elbstrand - Roman

von: Charlotte Jacobi

Piper Verlag, 2020

ISBN: 9783492994897

Sprache: Deutsch

480 Seiten, Download: 4695 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Sturm über der Villa am Elbstrand - Roman



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Diesmal durfte nicht geschwiegen werden! Schon einmal waren zu viele in der deutschen Bevölkerung stumm geblieben, als mutige Worte und Taten notwendig gewesen wären. Doch jetzt stand sogar noch mehr auf dem Spiel: Es ging um nicht weniger als die drohende Vernichtung der gesamten Menschheit! Sofie Timmlein eilte mit einem Flugblatt in der Hand die Treppen der Villa Nieland hinauf. Die resolute Vierundsechzigjährige war auf der Suche nach der Besitzerin des Elbschlösschens – ihrer besten Freundin Anna Nieland. Sie fand die modebewusste Dame wie so häufig im Türmchen ihrer Villa. Von dort genoss sie einmal mehr die schöne Aussicht auf die Elbe und die Einfahrt zum Hamburger Hafen. Als Sofie die Stiege in den kleinen Turm erklomm, spielte der Frühlingswind mit ihren langen, von nur wenigen weißen Strähnen durchzogenen, blonden Haaren – wie einst ihre Mutter ergraute auch sie jetzt im Alter kaum. Anna Nieland, deren dreiundsechzigsten Geburtstag sie vor zwei Tagen gefeiert hatten, befand sich in Gesellschaft von Sofies Enkeltochter Isabel. Das sechzehnjährige Mädchen war wie die Patriarchin sehr exquisit gekleidet und trug ihr dunkles Haar ebenso modern geschnitten: kinnlang, mit einer in die Stirn fallenden Welle, am Oberkopf stark toupiert und über den Ohren in je einer Locke herabfallend. Sie hatten beide stark geschminkte Augen, geradezu katzenartig.

»Sofie, Liebes, was ist passiert?«, fragte Anna, als sie ihre Freundin erblickte. »Du bist ja ganz aufgeregt.«

Sofie deutete auf das Flugblatt in ihrer Hand. »Unsere Freundin Helga Stolle von den Atomwaffengegnern hat das geschickt. Am Karfreitag soll es von Hamburg-Harburg zu einem viertägigen Protestmarsch losgehen«, fasste Sofie die wichtigsten Eckdaten des Schreibens zusammen. »Ziel ist der Raketenübungsplatz Bergen-Hohne.«

»Ah, gute Idee. An diesem schrecklichen Ort kann man gar nicht genug demonstrieren«, entgegnete Anna überzeugt. In der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen waren von der westdeutschen Bundeswehr im Dezember 1959 die ersten Träger für Atomraketen erprobt worden. Anna und Sofie hatten im Zweiten Weltkrieg ihnen liebe Menschen verloren. Daher waren sie besonders entsetzt darüber, dass – nach der umstrittenen Wiederbewaffnung der Bundesrepublik vor knapp fünf Jahren – nun sogar diese furchtbaren Massenvernichtungswaffen auf deutschem Boden getestet wurden. Anna streckte die Hand nach dem Flugblatt aus und begann es zu studieren: Die Gruppe wollte durch den geplanten Ostermarsch zu jenem Raketenübungsplatz Bergen-Hohne öffentlich ihr entschiedenes Nein zu atomaren Waffen bekennen.

»Ihr Widerstand richtet sich gegen atomare Kampfmittel jeder Art und jeder Nation«, las die Villenerbin vor, und Isabel, Sofies Enkelin, lauschte aufmerksam. »Sie knüpfen mit dem Protest an den großen englischen Ostermarsch an. Der findet seit 1958 jährlich statt – mit jeweils Tausenden von Teilnehmern.«

Helga Stolle und Hans-Konrad Tempel, zwei mit Annas Tochter befreundete Pazifisten und Quäker, hatten die Protestform der Ostermärsche von England auch nach Deutschland gebracht.

»Na, was meinst du?«, fragte Sofie, die mit ihrer Familie seit fast vier Jahrzehnten in der ausgebauten Wohnung über dem Wagenschuppen neben der Elbstrandvilla lebte. Sie strahlte Entschlossenheit aus. »Finden wir ihre Gründe stichhaltig genug, dass auch wir zwei alten Krähen mitmarschieren sollten?«

»Aber unbedingt!«, sagte Anna im Brustton der Überzeugung. Sie war froh gewesen, als ihre Freundin neulich verkündet hatte, dass es angesichts ihres Alters allmählich an der Zeit sei, ihre eigene Zahnarztpraxis baldmöglichst aufzugeben – und Anna noch mehr bei deren politischer Arbeit zu helfen. Einen geeigneten Nachfolger für Sofies Praxis zu finden, würde allerdings gewiss nicht einfach werden. Schließlich war die dreifache Mutter und dreifache Großmutter eine der beliebtesten Zahnärztinnen Hamburgs. Da würden die Patienten nicht jeden akzeptieren.

Auch Anna trat in letzter Zeit beruflich kürzer, überließ ihr Modehaus zunehmend ihrem zweiten Ehemann Franz und Sofies Tochter, Modeschöpferin Hilde. Die beiden weilten derzeit mit Hildes Mann, dem Kunstprofessor José Torres, in Paris. Annas politisches Engagement wurde jetzt im Alter immer breiter gefächert. Beispielsweise bemühte sie sich leidenschaftlich um Wiedergutmachung für Opfer des Dritten Reiches, dem 1940 ihr erster Mann Gideon zum Opfer gefallen war. Doch schon zum Ende des Ersten Weltkrieges hatten Anna und Sofie für das Frauenwahlrecht sowie ein Ende des Krieges demonstriert. Und im April 1958 waren die beiden nunmehr alten Damen bei Kundgebungen gegen die von der Adenauer-Regierung geplante nukleare Aufrüstung dabei gewesen.

Die junge Isabel, die sich ein wenig um ihre Großmutter Sofie und deren Freundin sorgte, nahm Anna das Flugblatt ab, auf dem die Etappen des geplanten – immerhin knapp hundert Kilometer langen – Ostermarsches von Hamburg-Harburg nach Bergen genauer aufgeführt waren. Am Karfreitag wollten die Demonstranten die ersten dreißig Kilometer zu Fuß bis nach Sprötze in der Nordheide zurücklegen, am Samstag planten sie, Schneverdingen zu erreichen, am Ostersonntag Soltau, und am Montag schließlich sollte es zur Abschlusskundgebung in Bergen gehen.

»Für Übernachtungsmöglichkeiten wird auf Wunsch gesorgt«, las Isabel mit gefurchter Stirn vor. »Wollt ihr euch das wirklich antun? Ich habe gehört, dass man die Teilnehmer teilweise in Turnhallen unterbringt.«

»Das überleben wir schon«, beruhigte Anna sie schmunzelnd. »Außerdem habe ich in Soltau gute Freunde, also werden wir am letzten Abend wieder in weichen Daunen schlafen. Keine Angst, Bellchen.«

Sofie strich ihrer Enkeltochter liebevoll über das Haar. Die belesene, wortgewandte und fleißige junge Frau war so intelligent, dass sie am Neusprachlichen Gymnasium für Mädchen in Groß Flottbek bereits zweimal eine Klasse hatte überspringen dürfen. Schon diesen Sommer würde sie das Abitur ablegen. Nebenbei half sie in der Redaktion des Hamburger Abendblatt aus. Ein dort angestellter Freund von Anna Nielands verstorbenem Cousin hatte ihr diese Stelle besorgt und betont: »Noch nie hat ein so junges Mädchen bei uns mitgearbeitet. Und noch nie ein so kluges und fleißiges.«

Isabel war stolz auf diese Arbeit. Das Abendblatt war die erste Tageszeitung der jungen Bundesrepublik, die eine »deutsche« Lizenz erhalten hatte und nicht von den alliierten Stellen lizenziert wurde. Seit der Gründung wurde der Wahlspruch verwendet: »Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen« – ein Zitat des Hamburger Schriftstellers Gorch Fock. Isabels Großonkel Willy hatte jenen Heimatdichter 1916 auf dem Kriegsschiff Wiesbaden noch persönlich kennengelernt. Doch Gorch Fock war in der Skagerrak-Schlacht gefallen – wie fast alle Kameraden Willys. Nur ein Oberheizer hatte außer ihm überlebt. Und auch Annas Vater, Gründer der Reederei, war in diesem größten Seegefecht aller Zeiten gestorben. Krieg – nein, Krieg durfte es nie wieder geben auf deutschem Boden.

»Ich möchte euch begleiten«, verkündete die Sechzehnjährige nun. »Ich bin in einer Bombennacht geboren worden, ich will nicht in einer sterben. Jeder verantwortungsbewusste Staatsbürger mit Weitblick sollte bei diesem Protest mitmachen.«

Dies war nicht der einzige Grund, dass Isabel an dem Marsch teilnehmen wollte. Auch wenn man es den zwei schönen Damen nur sehr bedingt ansah, so hatten sie ja doch ihr siebtes Lebensjahrzehnt bereits begonnen – und die junge Frau wollte ein wenig auf die beiden aufpassen.

»Wir müssen uns aber darauf einstellen, beschimpft zu werden«, warnte ihre Großmutter Sofie. »›Naive Spinner‹ wird sicher noch die harmloseste Bezeichnung für uns sein.«

»Dann lasst uns die schönsten Kreationen anziehen, die Hildchen für uns geschaffen hat«, schlug Anna vor. »Zeigen wir denen, dass Frauen von Welt mit Köpfchen erkannt haben, was wichtig ist!«

»Was ist denn wichtig? Elegante Kleidung?«, scherzte Sofie. »Also ich werde lieber was Zweckmäßiges anziehen.«

In diesem Moment kam Annas Tochter Helene zu ihnen. »Mutti, Fräulein Queck ist da«, sagte die Dreiundvierzigjährige mit den sanft gewellten, dunklen Haaren. »Jetzt wird es ernst.«

Die Villenbesitzerin geriet sofort in helle Aufregung. »Schon? Ich wollte doch noch im Salon aufdecken lassen. Sofie, Isabel, entschuldigt mich.« Mit diesen Worten folgte sie ihrer Tochter nach unten.

»Wer ist denn Fräulein Queck?«, wandte sich Isabel verwirrt an ihre Großmutter.

»Eine Bewerberin für die Stelle der Haushälterin«, erklärte Sofie. »Unsere Ursel will uns doch verlassen. Ihr Sohn ist wieder Vater geworden. Und da ihn seine Frau in der Praxis unterstützt, möchte Ursel zu ihnen ziehen, um mit den Kindern zu helfen. Die bisherigen Bewerberinnen für Ursels Nachfolge hier im Haus waren allesamt einigermaßen schrecklich. Aber diese Xenia Queck hat schon in den besten Häusern gedient. Anna und ihre Leni sind so aufgeregt, als würden sie sich bei der Haushälterin bewerben und nicht umgekehrt.«

***

Xenia Queck war laut ihrer Bewerbungsunterlagen zwar erst fünfundvierzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich älter und äußerst distinguiert. Man konnte sie sich durchaus auch als Herrin eines der hochherrschaftlichen Anwesen vorstellen, auf denen sie bisher als Hausdame gedient hatte. Leni erinnerte die hagere, klassisch gekleidete Frau ein wenig an ihre Urgroßmutter Gudrun Nieland. Blieb zu hoffen, dass auch die Bewerberin unter ihrer harten Schale einen ebenso liberalen und liebevollen Kern...

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