Café Engel - Eine neue Zeit - Saga um eine Wiesbadener Familie und ihr Traditionscafé. Roman

Café Engel - Eine neue Zeit - Saga um eine Wiesbadener Familie und ihr Traditionscafé. Roman

von: Marie Lamballe

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2019

ISBN: 9783732561094

Sprache: Deutsch

559 Seiten, Download: 1275 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Café Engel - Eine neue Zeit - Saga um eine Wiesbadener Familie und ihr Traditionscafé. Roman



HILDE


Wiesbaden, 22. März 1935

Ganz sacht meldet sich der Frühling in der Stadt. Gelbe und violette Krokusse leuchten in den Wiesen des Kurparks, Narzissen strecken ihre lindgrünen Blättchen aus dem Boden. Jetzt, um die Mittagszeit, ist kaum Verkehr auf der breiten Wilhelmstraße, Spaziergänger schlendern an den Läden vorbei, einige Unerschrockene sitzen schon an den Tischen der Straßencafés und genießen den Vorfrühling bei einem Tässchen Kaffee.

»Kommste noch mit?«, fragt die zwölfjährige Hilde ihre Freundin.

Gisela bleibt stehen und zieht die Riemen des schweren Schulranzens nach vorn, weil sie ihr in die Schultern einschneiden. Einen Moment lang überlegt sie, dann schüttelt sie bekümmert den Kopf. »Nee, heute besser nicht. Mama will mit mir zur Schneiderin, ich krieg zwei neue Kleider genäht.«

»Hast du es gut«, seufzt Hilde. »Deine Mama hat immer Zeit für dich.«

»Phhh«, gibt Gisela mürrisch zurück. »Wir können gern tauschen. Du gehst mit meiner Mama zur Schneiderin, und ich setze mich zu deiner Mama ins Café Engel.«

Das will Hilde allerdings auch nicht. Erstens ist Giselas Mama ziemlich streng. Und zweitens würde Hilde das Café Engel gegen nichts und niemanden in der Welt eintauschen.

»Dann bis morgen …«, sagt sie zu Gisela.

»Bis morgen … Kann ich die Rechenaufgaben morgen früh wieder von dir abschreiben?«

»Meinetwegen …«

Gisela winkt und läuft davon in Richtung Webergasse. Ihre blaue Jacke, die sie ausgezogen und über den Ranzen gehängt hat, bläht sich im Wind wie ein Segel. Hilde wendet sich zum elterlichen Café, wo über dem Eingang ein pausbäckiger Engel aus goldfarbenem Blech baumelt, eine Kaffeekanne in den Händen. Auch hier sitzen schon einige wenige Gäste an den Tischen, die Finchen draußen auf dem Trottoir aufgestellt hat.

»Ja, die Hilde …«, ruft eine dicke Frau im Pelz. »Na, ist die Schule schon aus?«

Das ist die Frau Knauss, die hat ziemlich viel Geld, sagt Mama, und Hilde ist angewiesen, sehr höflich zu sein. Auch wenn sie blöde Fragen stellt, wie jetzt zum Beispiel.

»Ja, gnädige Frau«, sagt sie und macht einen angedeuteten Knicks.

Frau Knauss lächelt gönnerhaft und meint zu ihrer Freundin Ida, die mit kältestarrer Miene ihre Tasse umklammert, dass die Kinder heutzutage doch kaum noch etwas lernen würden. Die Freundin nickt. Auch der junge Mann, der mit am Tisch sitzt, bestätigt diese Meinung.

»Haben Sie noch einen Wunsch?«, fragt Hilde. Es klingt genauso, wie Finchen, die Bedienung, es immer sagt. Hilde würde wahnsinnig gern im Café servieren, aber leider darf sie das nicht.

»Drei Kaffee-Cognac …«, bestellt Frau Knauss und fügt hinzu, dass Hilde ein tüchtiges Mädel sei.

Das findet die blonde Hilde auch. Sie nimmt den Schulranzen ab, bevor sie durch die Drehtür ins Café hineingeht. Das ist wichtig, weil sie schon einmal mit dem Ranzen in der Tür stecken geblieben ist. Auch drinnen wird sie von einigen Gästen begrüßt, das Café Engel hat viele Stammgäste. Manche kommen schon am Vormittag, trinken Kaffee oder auch ein Weinchen und lesen die Zeitung.

Hilde grüßt zurück und geht zu der gläsernen Kuchentheke, wo Finchen, die Serviererin, gerade zwei Stücke Schokosahne auf Teller legt.

»Drei Kaffee-Cognac nach draußen«, gibt Hilde die Bestellung routiniert weiter. Dann setzt sie sich an den kleinen Tisch gleich neben der Theke und stellt den Schulranzen so, dass man ihn nicht sehen kann. Eigentlich darf sie ihre Hausaufgaben nicht hier unten im Café machen, weil Mama der Meinung ist, hier sei es zu laut und Hilde könne sich nicht konzentrieren. Aber das stimmt nicht. Hilde ist der festen Meinung, dass das Café Engel der beste Ort in der Welt ist, um Hausaufgaben zu machen. Bei dem leisen Geklapper des Geschirrs, dem Klirren der Löffelchen und Kuchengabeln, dem Reden, Murmeln und Lachen der Gäste fühlt sie sich unendlich wohl und zu Hause. Und erst die Gerüche, die das Café erfüllen! Der frisch aufgebrühte Bohnenkaffee, der Geruch nach Vanille, Bittermandel und Schokolade, der Hauch von Kirschwasser oder Cognac, ja, sogar der Zigarrenrauch und die Zeitungen … das alles mischt sich zu jenem wundervollen, lebendigen Duft, der das Café Engel ausmacht.

Hilde zieht ihr Rechenheft aus dem Ranzen und sucht den Bleistift hervor. Hier an diesem Tisch schützen sie die vielen Torten in der Kuchentheke vor Mamas Blicken, und Papa achtet nicht auf sie, weil jetzt die Opernsänger von der Probe kommen. Die Schauspieler und Musiker vom Theater gehen immer nur ins Café Engel, sie sind alle Papas Freunde und fühlen sich hier wohl.

Hilde wirft die blonden Zöpfe über die Schulter, damit sie nicht stören, und rechnet eifrig drauflos. Bei schwierigen Aufgaben schaut sie hinauf zur weißen Stuckdecke, folgt den verschlungenen Ornamenten und hat dann sofort die Lösung gefunden. Im Rechnen ist sie Klassenbeste, da ist keine so flott wie die Hilde Koch. Nur mit den Aufsätzen quält sie sich ziemlich herum, da muss sie sich manchmal Hilfe holen.

»Na, Hilde? Weiß das auch die Mama, dass du hier sitzt?«

Finchen, die Serviererin, läuft mit dem vollgepackten Tablett an ihr vorbei. Dreimal Schwarzwälder Kirsch, zweimal Käse-Sahne – das ist garantiert für die Schauspieler, die schlagen sich immer die Bäuche voll. Die Opernsänger essen am Nachmittag kaum etwas, damit sie abends gut bei Stimme sind. Dafür kommen sie nach der Aufführung ins Café Engel und vertilgen Kartoffelsalat, Senf-Eier und Lachsschnittchen und solche leckeren Sachen. Aber um diese Zeit muss Hilde leider ins Bett. Sie schaut nur immer am Nachmittag zu, wenn die Marlene in der Küche wirbelt. Die Marlene ist die Kaltmamsell und Hildes besondere Freundin, weil sie bei ihr immer probieren darf.

»Du bist die Vorkosterin«, sagt Marlene immer. »Du musst von allem ein bisschen essen, sonst kann ich es nicht rausgeben.«

Sie ist klein und dünn, die Marlene, und sie hat grünliche Augen. Wenn sie arbeitet, trägt sie immer ein Tuch um die Haare gewickelt. Sie hat Hilde gezeigt, wie man Senf-Eier zubereitet und wie man den Räucherlachs schneidet. Mit einem scharfen Messer, schräg und ganz fein …

»Sie macht das sehr geschickt«, hat Marlene zu Mama gesagt.

»Hauptsache, sie stört dich nicht bei der Arbeit«, hat Mama geantwortet.

Mama weiß es noch nicht – aber Hilde ist fest entschlossen, eines Tages die Chefin des Café Engel zu werden. Das hat sie mit Papa schon abgesprochen, und der hat gesagt, er sei einverstanden.

»In zehn Jahren«, hat er gemeint. »Dann bist du volljährig, mein Mädchen. Dann kannst du den Laden übernehmen.«

Wobei man bei Papa nie sicher sein kann, dass er nicht morgen etwas anderes sagt. Papa ist der liebste Papa der Welt. Aber was Mama sagt, das wird gemacht. So ist das im Café Engel. Und oben in der Wohnung ist es genauso.

Jetzt wird es eng, weil Mama plötzlich im Gastraum auftaucht und sich umschaut. Verflixt. Hat Finchen etwa gepetzt? Oh, wie gemein von ihr! Marlene hätte das nie getan …

Aber Mama kümmert sich gar nicht um Hilde, sie geht hinüber zum Fenstertisch, wo Papa mit den Opernleuten sitzt.

»Heinz, bist du so lieb … ich brauch dich mal«, ruft sie und lächelt den Gästen entschuldigend zu.

Papa ist gut erzogen, er steht gleich auf, und dann reden die Eltern leise miteinander, ganz dicht bei der Kuchentheke.

»Das kann ich nicht, Else. Schon gar nicht den Max Pallenberg, der letztes Jahr so unglückselig ums Leben gekommen ist …«

Hilde spitzt die Ohren. Den Sänger und Schauspieler Max Pallenberg kennt sie von dem Foto, das drüben im Nebenraum hängt. Mit Unterschrift natürlich. Das Café Engel ist voll von solchen Fotos, sie hängen überall an den Wänden, die meisten in Glasrahmen, manche auch auf Pappe aufgeklebt. Viele sind schon ganz vergilbt, aber Papa ist sehr stolz auf die Fotos, und er sagt immer, sie seien der größte Schatz des Café Engel.

»Den Pallenberg kannst du ja hängen lassen«, flüstert Mama. »Aber der Kortner muss weg. Und der Klaus Mann auch. Der zuerst.«

»Das ist feiger Opportunismus, Else. Was sollen meine Freunde von mir denken?«

»Das ist Lebensklugheit, Heinz! Er ist drüben in der Kochbrunnenhalle. Mit der ganzen Gefolgschaft. Einen Katzensprung von uns entfernt.«

»Er ist ein kunstsinniger Mensch, Else. Und er liebt das Theater …«

Hilde hört Mama leise lachen. Es klingt nicht fröhlich. Eher bitter. »Wo lebst du? Im Traumland? Wenn er tatsächlich hierher kommt und jüdische Künstler auf unseren Fotos sieht, dann wird er einen Wutanfall bekommen, und das Café Engel wird geschlossen. So schaut es aus.«

»Ach, Else …«

»Ich hänge jetzt erst mal den Gründgens über den Kortner. Und über den Klaus Mann kommt der Richard Strauss. Und der August Bebel, der kommt ganz weg.«

Papa fügt sich kopfschüttelnd. Das war vorauszusehen. »Den Bebel kann ich verschmerzen, Else. Aber die anderen … Es ist eine Schande!«

»Lass mich nur machen, Heinz.«

Mama streichelt dem Papa über die Wange, und er tut noch einen langen Seufzer, bevor er sich wieder zu den Opernsängern setzt. Mamas Augen gleiten über die Wände von Foto zu Foto, dann bleiben sie an Hilde hängen, die stocksteif an ihrem Tisch sitzt und so tut, als sei sie nicht da.

»Was machst du denn hier, Hilde? Hab ich nicht gesagt, die Schularbeiten werden oben in der Wohnung erledigt?«

Ablenkung ist die beste...

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