Khyona (1). Im Bann des Silberfalken

Khyona (1). Im Bann des Silberfalken

von: Katja Brandis

Arena Verlag, 2018

ISBN: 9783401807850

Sprache: Deutsch

488 Seiten, Download: 1139 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Khyona (1). Im Bann des Silberfalken



ZWEI DUNKLE AUGEN

Ich werde beobachtet. Kari wusste nicht, woher sie die Gewissheit nahm, aber sie war da, ganz plötzlich. Völlig unlogisch – wer sollte sie denn sehen? Sie waren doch die Einzigen auf diesem kleinen Schotterparkplatz eine halbe Stunde außerhalb von Reykjavík. Auf der Landstraße sauste nur hin und wieder ein Auto vorbei.

Kari blickte sich um, sondierte mit den Augen die Pferdeweiden, die Wiesen, die Berge, deren grünbraune Zacken am Horizont aufragten. Niemand da.

Fast niemand.

»Was schaust du denn so? Komm, wir klettern da runter, das sieht toll aus!« Ihre kleine Schwester Alice knuffte sie in die Seite. Ihre hellblauen Augen blitzten unternehmungslustig und ihre schulterlangen Haare, glatt und braun wie das Fell eines Otters, glänzten in der Sonne. Ohne eine Antwort abzuwarten, bewegte Alice sich halb rutschend, halb springend den Geröllhang hinunter zu einer Wildwiese, die mit lila blühendem Heidekraut, gelben Blümchen und Gebüsch bewachsen war.

Kari streckte sich, lockerte ihre verspannten Schultern und atmete tief ein. Islands Hauptstadt mit ihren bunten Wellblechhäusern und den Straßen voller Andenkenläden, Restaurants und Buchhandlungen hatte ihr gefallen, aber jetzt wollte sie endlich die berühmten Naturschönheiten sehen. Die lauerten hier laut Reiseführer buchstäblich an jeder Ecke, falls Naturschönheiten so etwas konnten.

Alice war inzwischen auf der Wiese angekommen, die es zwar nie in den Reiseführer schaffen würde, aber immerhin »Natur« und außerdem »schön« war.

»He, halt mal, habt ihr nicht auch gelesen, dass besonders das Moos hier sehr empfindlich ist und man nichts zertrampeln sollte?«, wandte ihr Patchworkbruder John Elzheimer ein. Er dachte nicht daran, seine Sonnenbrille abzusetzen. Seine Augen blieben hinter schwarzen Gläsern verborgen.

Natürlich hat er recht, so wie immer. Lehrersohn halt. Kari zögerte. Gerade warf sich Alice neben einem verwitterten Felsbrocken auf die Wiese. »Aber hier ist gar kein Moos, das sind nur Gras und Heidekraut«, meldete sie. »Oh, ist das dick und weich! Das müsst ihr ausprobieren! Wenn man drauftritt, federt es zurück, das geht nicht gleich kaputt.«

Die Versuchung war zu stark. Komm, sag es, sag es, petz das an deinen Vater!, dachte Kari, während sie den Hang hinunterkletterte. Doch John zog wahrscheinlich nur die Augenbrauen hoch, das hörte man nicht. Gut so.

Seufzend vor Behagen machte Kari es sich im sonnenwarmen Heidekraut bequem. Oh ja, das fühlte sich unglaublich an – wie ein ultradicker Teppich, der würzig nach Kräutern roch.

»Das hier ist nicht wirklich Island«, murmelte Kari.

»Was denn sonst?« Alice kitzelte sie mit einem Grashalm an der Nase.

»In Island gibt es hundert Wörter für Wind, außerdem regnet es die meiste Zeit.« Kari schloss einen Moment lang die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

»Du ärgerst dich nur, weil Mam dir gesagt hat, du sollst deinen geliebten Norwegerpulli im Auto lassen«, behauptete Alice.

»Wenn ich Pech habe, wird der von einheimischen Elfen aufgeribbelt, wenn ich mal nicht hinsehe. Weil man hier nur Islandpullis tragen darf.«

»Kommt ihr? Wir machen übrigens da vorne Picknick!«, rief John zu ihnen herüber, er klang genervt.

»Ja, gleich!«, rief Kari zurück und flüsterte Alice zu: »Boah, wie der dasteht – das ist seine Geheimagentenpose. Die Coolness läuft ihm gleich aus den Ohren.«

Alice kicherte leise. »Wetten, zum nächsten Fasching geht er wieder als James Bond? Wie schon letztes Jahr und wahrscheinlich im Jahr davor.«

»Garantiert.«

»Nur die Pickel passen nicht ganz. Bond hat keine Pickel!«

»Doch«, sagte Kari und musste grinsen »Aufgeklebte. Es sind winzige getarnte Sprengwaffen, die er abnehmen und auf seinen Gegner schleudern kann.«

Ihre zwölfjährige Schwester drückte das Gesicht in ihren Ärmel, um ihren Lachanfall zu verbergen.

»Wir sind ganz schön gemein, oder?«, meinte sie, als sie wieder Luft bekam.

»Ja«, sagte Kari und verzog das Gesicht zu einer reuigen Grimasse. Für echte Reue reichte es nicht. »Ziemlich. Und jetzt komm, vielleicht ist noch Vanille-Skyr übrig, du weißt schon, dieses Quarkzeug, das wir gestern im Supermarkt gekauft haben.«

Sie warf einen kurzen Blick hinüber zum Auto und stellte fest, dass ihre Mutter und Thorsten sich mit der Picknicktüte in der Hand küssten und über irgendetwas lachten. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand eine lange Nadel ins Herz bohren, ganz langsam. Würde es jemals wieder so werden wie vorher, als sie noch ein Drei-Mädels-Haushalt gewesen waren, wie Mam es manchmal ausgedrückt hatte? Wenn sie und Mam, die beiden Frühaufsteher in der Familie, in Joggingklamotten beim Frühstück gesessen hatten, den ersten Kaffee oder Kakao in der Hand und die Füße hochgelegt. Wenn sie sich gegenseitig interessante Sachen aus der Zeitung vorgelesen hatten oder witzige Sätze aus dem Buch, in dem sie gerade schmökerten?

Jetzt lief das so, dass Mam beim Frühstück mit Thorsten Elzheimer über Politik oder irgendeinen gesellschaftlichen Trend diskutierte, über seine lahmen Witze lachte und fragte, ob er noch eine Scheibe von diesem in Blabladorf handgemachten Bergkäse wollte. Wenn man Glück hatte, musste man nur zweimal fragen, ob sie einem die Butter reichen könnte. Mit noch mehr Glück wurde man satt, bevor Thorsten verkündete, dass sie jetzt langsam in die Gänge kommen sollten, und Sekunden später abzuräumen begann.

Kari ließ ihren Blick weiter schweifen – sie fühlte sich noch immer beobachtet, das Gefühl war stärker geworden. Aber da ist nichts … oder doch? Sie blickte sich um und fühlte die Haut zwischen ihren Schulterblättern kribbeln, doch ihre Augen entdeckten nichts Verdächtiges. Alles Einbildung – und ich brauche jetzt dringend ein paar Chips. Oder wenigstens welche von diesen echt isländischen getrockneten Fischflocken, auf die Alice so abfährt, weil sie ein bisschen wie Chips schmecken.

Das Picknick fand am Rand des Schotterparkplatzes statt. Kari hatte keine Lust mehr, sich zu unterhalten, und blieb einsilbig, während sie die salzigen Fischflocken knabberte und sich von Alice mit ein paar Löffeln Skyr füttern ließ. Diesmal war es immerhin eindeutig, wer sie dabei beobachtete. John fixierte sie mit seinen Sonnenbrillenaugen, und sein abfälliges Grinsen ließ keinen Zweifel daran, wie albern er es fand, wie sie und Alice herumflachsten. Ja, dachte Kari gereizt und wischte sich einen Klecks Skyr von der Jeans. Ich bin uncool und es ist mir egal, stell dir vor!

Früher, in der Grundschule oder so, hatte sie sich einen großen Bruder gewünscht. Einen, der für sie da war, wenn es ein schlechter Tag gewesen war und ihre Mutter keine Zeit zum Trösten hatte, weil sie ganz dringend diese neue, dämliche Kundenzeitschrift fertigstellen musste, für die es mehr Geld gab als für Artikel bei den Stadtmagazinen. Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Jetzt wohnte ihr brandneuer Patchworkbruder im ehemaligen Gästezimmer neben ihrem, zockte am Computer und beschallte alle mit Hardrock oder Heavy Metal, bis er hoffentlich irgendwann studierte und auszog. Was leider noch dauern konnte, er war nicht mal ein großer Bruder, sondern erst fünfzehn. Wieso konnte er eigentlich nicht bei seiner amerikanischen Mutter in South Carolina leben?

Hilflose Wut wühlte in Karis Magen, wie so oft in den letzten drei Monaten.

»Wer mag noch eine Cherrytomate?«, fragte ihre Mam und gönnte sich neben der Tomate auch einen Keks. Ihre sehnige Läuferinnenfigur vertrug es.

Kari winkte ab. »Ich geh noch mal kurz runter auf die Wiese.« Sie wollte wenigstens einen Moment lang allein sein, das würde schwierig genug werden in den nächsten beiden Wochen.

Ihre Füße versanken im lila blühenden Heidekraut und die Sonne wärmte ihre Haut. Herrlich war es hier. Ganz langsam fühlte Kari, wie sie zur Ruhe kam. Vielleicht ist es doch gut, dass wir hierhergefahren sind, wie Thorsten das vorgeschlagen hat, und nicht nach Schweden, wie ich es wollte. Aber dort hätte ich sehen können, wo Opa und Oma herstammen … wär interessant gewesen …

Als Kari sich noch ein letztes Mal umsah, erhaschte sie einen Blick auf etwas Weißes, das auf dem Stein hockte. Ein Vogel mit kurzem, gebogenem Schnabel und weiß-silbrigem Gefieder, ungefähr doppelt so groß wie eine Taube.

»Schau mal – ich glaube, das ist ein Falke!«, flüsterte sie ihrer Schwester zu, die – so wie John – gerade begonnen hatte, in Karis Richtung den Hang hinunterzukraxeln. »Schnell, kannst du die Kamera holen? Oder mein Handy, das müsste auf dem Rücksitz liegen.«

»Wow, der ist echt schön«, flüsterte Alice hingerissen und wollte schon los, doch John verkündete vom Parkplatz aus: »Hab ihn schon abgelichtet.« In lässiger Pose zielte...

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