Totenmesse - Kriminalroman

Totenmesse - Kriminalroman

von: Arne Dahl

Piper Verlag, 2011

ISBN: 9783492951159

Sprache: Deutsch

416 Seiten, Download: 832 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Totenmesse - Kriminalroman



1

Fossilien, dachte er, überall Fossilien. Auf der obersten Treppenstufe hielt er inne.

Sein Fuß bedeckte zur Hälfte das wohlbekannte Muster auf der rötlichen Granitfläche der Kellertreppe. Mit einem leisen Kratzen bewegte er den Fuß zehn Zentimeter zur Seite, sodass der ganze Orthozeratit sichtbar wurde. Das Urzeitrelikt glänzte schwach im Dämmerlicht, das durch die vom Großstadtstaub verschmutzte Scheibe der Kellertür hereinfiel.

Er blickte zu den petroleumgrauen Wolken auf und sah in einem Augenblick der Klarheit, dass der Himmel dahinter vollkommen blau war.

Klarblau.

Es dauerte nur einen Augenblick. Dann war der Himmel wieder grau, grau wie gewöhnlich, grau von verbrannten fossilen Brennstoffen.

Unter dem Fuß Fossilien und Fossilien über dem Kopf, in den Lungen, im Blutkreislauf.

Die Unauslöschlichkeit des Vergangenen.

Aber der Himmel kann wieder blau werden, dachte er und schlug mit der Hand auf die Innentasche seines Kordjacketts.

Er schloss die Augen und atmete tief. Er sollte an den Tod denken. Er war ein bisschen enttäuscht von sich selbst. Es kamen keine existenziellen Gedanken über den magischen Charakter des Todesaugenblicks, über den Zustand, von dem niemand erzählen kann. Keine göttliche Offenbarung, keine letzte Einsicht in einen Sinn jenseits des Vergehens, kein Leben, das vor seinem inneren Auge Revue passierte.

Er lachte auf. Stumm. Da war nicht viel Leben, das Revue passieren könnte. Vielleicht geschah es gerade jetzt, ohne dass er es merkte. Vielleicht rollte die Leere, die Nichtigkeit, die Erbärmlichkeit vorüber, ohne auf seiner Hirnrinde einen einzigen Abdruck zu hinterlassen.

Die leere Geschichte seines Lebens.

Stattdessen dachte er an Dinosaurier. Eine Welt, die unterging und einer neuen den Weg bereitete. Tote Dinosaurier, die unter die Erde gepresst und zu Öl, Kohle und Gas werden, die dort ruhen, bis die nächste Welt sie ausgräbt und verbrennt und die giftigen Rückstände zum Himmel schickt.

Der Himmel ist von ausgestorbenen Dinosauriern bedeckt.

Er lachte erneut. Wieder stumm. Strich mit der Hand über den Umschlag in seiner Innentasche und dachte an die drei. Die drei Karten, die drei toten Brüder, die schweigende Bruderschaft im Keller, die von einer flammenden Hölle umzingelten glasklaren Gedanken.

Vater, dachte er.

Vorsichtig schob er die Kellertür einen Spaltbreit auf. Die feuchte Kühle des Frühsommermorgens drang sofort durch die Kleidung. Nahm er an. Denn spüren konnte er sie nicht. Auch den muffigen Großstadtgeruch nahm er nicht wahr. Er musste sich auf anderes konzentrieren.

Manchmal schaltet ein Sinn den anderen aus. Um mehr Raum zu bekommen. Alles, was er benötigte, waren Ohren und Augen. Nie mehr würde er einen Geruch oder einen Geschmack wahrnehmen, nie mehr eine Berührung spüren. Aber er würde noch sehen und hören. So viel wie möglich. Bis zum Ablieferungsort. Dann würde der Tastsinn für die letzten Sekunden alles übernehmen. Er hoffte, dass es wenige sein würden.

Ja, Herrgott, dachte er und blickte hinaus. Die Straße lag verlassen da. Etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. Sie wussten, wie man unsichtbar bleibt. Alle beide. Beide Lager.

Wenn es nicht mehr als zwei waren.

Die frühen Stunden. Wann enden die frühen Stunden?

Während er auf die Straße schlich, fiel ein letzter Blick auf das Fossil auf der Treppe. Näher bin ich einem Haustier nie gekommen, dachte er.

Näher bin ich einer Familie nie gekommen.

Der Ablieferungsort, dachte er. Darum geht es jetzt. Nur darum.

Es war eine Seitenstraße, etwas verwahrlost. Eine Gasse. Ein Ort für einen Überfall. Ein verborgener Ort. Eine verborgene Tür zu einem verborgenen Ort.

Als würden sie ihn nicht kennen.

Als würden sie nicht auf der Lauer liegen.

Als wären sie nicht schon jetzt, vor dem Anstieg, hinter ihm her.

Es war eine flache Stadt. Er kannte nicht viele andere Erhebungen. Doch hier kam man herauf und hatte einen Überblick über die materialisierten Träume.

Träume, die sich materialisieren, werden zu Albträumen.

Er liebte diesen Ort, den winzigen Park mit einer einzigen Bank, auf der man sitzen und sehen konnte, wie die Mauer sich ausbreitete, mit dem Niemandsland als einer Zone, die mehr mit Wahnsinn als mit Minen vermint war. Und es gab ziemlich viele Minen.

Doch jetzt blieb er nicht stehen. Im Laufschritt durchquerte er die Stadt. Keine Spur von Leben.

Und dort unten im Grau – einem künstlichen Nebel, der vermutlich aus verbrannten fossilen Brennstoffen bestand, alten Dinosauriern – schlängelte sich die Mauer dahin, bis sie von dem grauen Himmel verschluckt wurde, der die Sonnenscheibe, die er nur sah, wenn er sich umdrehte, nicht zu verdecken vermochte.

Denn die Sonne geht im Osten auf.

Und sein Blick war nach Westen gerichtet.

Als er sich umwandte, um die Sonne zu sehen, ahnte er in der Stille eine Bewegung. Vielleicht war die Bewegung nicht hinter seinem Rücken, sondern in seinem Kopf. Dort hatten sich im Verlauf der letzten Wochen viele Dämonen eingenistet. Im gleichen Maße, in dem sie in der Außenwelt auftauchten. Oder umgekehrt.

Es war schwer, die äußeren Dämonen von den inneren zu unterscheiden.

Ihre Zahl war Legion.

Herrgott, der Ablieferungsort. Es war noch zu weit. Sie durften noch nicht kommen. Wie sollte er es schaffen? Er machte längere Schritte, aber er durfte nicht rennen. Dann wüssten sie, dass er sie gesehen hatte, und würden ihn einfach greifen. Dann wäre die Hölle los.

Sie hielten sich noch zurück, warteten. Er wusste nicht genau, worauf.

Noch einmal fuhr er mit der Hand über die Innentasche – und zugleich über sein Herz. Doch, es schlug noch. Unter dem Tagebuch und den drei Teilen in dem ockerfarbenen Umschlag.

Ohne das schlagende Herz wäre nichts. Nur drei Papierstücke.

Die drei toten Brüder, deren Vater er gewissermaßen war.

Vater, dachte er. Hätte ich dich doch getroffen.

Wenn du dies hier hättest sehen können, dachte er und machte längere Schritte. Sein Blick schweifte über die Stadt. Die Fassaden der Häuser, die noch standen, waren zerfressen. Eine graue Ruinenstadt mit noch grauerem Himmel.

Davon hast du nicht geträumt. Jetzt weiß ich, wie du gedacht hast. Jetzt habe ich endlich deine Worte gelesen.

Deine Träume waren größer als das hier.

Aber das hier ist alles, was ich gesehen habe. Meine Stadt. Die Mauer, die ewige Mauer, dort draußen und ebenso in meinem Kopf. Und die fossilen Brennstoffe bewohnen meinen Körper.

Ein einziges Mal hatte er die Stadt verlassen können. Es war nicht einfach gewesen. Nach Moskau. Um die Vergangenheit zu besuchen.

Um die Vergangenheit zu verändern.

Noch sah er den Park nicht. Wenn die ersten Baumkronen auftauchten, würde er anfangen zu laufen. Erst dann. Die Frage war vor allem, wann sie ihn greifen würden. Denn wer es tat, spielte kaum eine Rolle.

Es gab drei Wege zum Park. Er hatte sie im Kopf. Die anderen sicher ebenso, aber es sollte möglich sein, sie zu täuschen. Es sollte möglich sein.

Rein theoretisch.

Noch ein Blick zurück über die Schulter. Ein Mensch jetzt – oder eher eine rasche Bewegung zu einer Haustür hin. Einen Moment noch als Abbild auf der Netzhaut. Eine optische Erinnerung.

Er wusste, wer sie waren. Diese übertrieben gut geschneiderten Anzüge, als hätten sie alle denselben Schneider. Die Anzüge des Bruderlands sahen anders aus. Als hätten sie überhaupt keinen Schneider. Aber sie waren bestimmt auch in der Nähe.

Die russischen Anzüge. Wie eine Schar von Bauern.

Noch keine Baumwipfel. Und das Licht der Dämmerung, das sich durchs Grau zwingt. Aber noch keine Menschen.

Keine außer ihnen. Verstecken sie sich nicht mehr? Die gut geschneiderten Anzüge scheinen jetzt überall zu sein. Oder sind sie nur in meinem Kopf?

Zwei jetzt. Scharfe Konturen gegen die matte Sonnenscheibe. Kein Grund, sich länger zu verstecken.

Dann war es so weit. Er bog an einem Zaun ab, lief über einen Spielplatz, schwang sich über eine Hecke, nahm eine Seitenstraße an einer Kreuzung und rannte. So schnell er konnte.

Der zweite der drei Wege zum Park.

Schritte. Er hörte die Schritte. Das Knirschen auf dem Kies des Spielplatzes. Du schaffst es. Du kannst es schaffen. Du kannst es immer noch schaffen.

Er bog um eine Kurve und rannte eine größere Straße entlang, bog wieder ab, durch einen Hinterhof, in eine Waschküche und auf der anderen Seite wieder hinaus. Keine Schritte mehr.

Wirklich nicht? Er konnte nicht stehen bleiben, um zu horchen. Und noch keine Baumwipfel.

Er tat es trotzdem. Blieb stehen. Lehnte sich an eine Haustür, die tief in die Fassade eingelassen war. Horchte.

Kein Laut. Sah sich um.

Ein Straßenkehrer fünfzig Meter entfernt. War es nicht zu früh für Straßenkehrer? Er meinte, unter dem Blaumann einen bäurischen Anzug zu erkennen.

Und lief in die entgegengesetzte Richtung. Bis er tatsächlich über den Fassaden die Baumwipfel sah.

Waren sie wirklich da?

Nichts war sicher. Außer dem Ablieferungsort, dem Umschlag in der linken Innentasche. Und der Pistole in der rechten.

Er rennt. Dreht sich um. Der Straßenkehrer ist weg. Bewegungen in den Gassen. Verdammt. Bäurische Anzüge.

Und vor ihm der Park. Kurz, weit; weit, kurz. Weiß nicht, kann sich nicht entscheiden. Läuft.

Schritte, Laufschritte. Wo? Woher? Hinter ihm? Vor ihm?

In den Park. Zwischen die Bäume....

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