Nationalismus - Geschichte, Formen, Folgen

Nationalismus - Geschichte, Formen, Folgen

von: Hans-Ulrich Wehler

Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN: 9783406692710

Sprache: Deutsch

122 Seiten, Download: 2773 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Nationalismus - Geschichte, Formen, Folgen



II. Entstehung und erste Entwicklung des Nationalismus


Der Nationalismus ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der Entwicklung aller Völker und Kulturen. Erst recht ist er alles andere als eine ewige Substanz, unabhängig vom Gang der Geschichte, wie das seine sog. primordialistische Deutung wahrhaben will. Vielmehr geht es zunächst um eine präzise Unterscheidung. Immer schon hat es Loyalitätsbindungen gegeben, welche Menschen an größere Herrschafts- und Solidarverbände gebunden haben. Ihr Bezugspunkt konnte der Familienclan oder die Klientel sein, ein Stamm oder eine Fürstendynastie, eine antike Polis oder später eine okzidentale Stadt, eine Religion oder eine Region. Ein solches Loyalitäts- und Zugehörigkeitsgefühl kann als sozialpsychische, geradezu als anthropologische Konstante gelten. Es hebt das Selbstwertbewusstsein und stärkt das Identitätsgefühl, wenn mit dem Solidarverband, dem man angehört, außer Schutz und Hilfe auch Ansehen und Geltung verbunden sind.

Solche älteren Loyalitätsbeziehungen haben a limine nichts mit dem Nationalismus zu tun. Allerdings können sie später im Rahmen dieses neuen Weltbildes zur Konstruktion einer nationalen Vergangenheit genutzt werden. Sie erodieren auch selten vollständig, sondern halten sich über lange Zeitspannen hinweg als konfessionelle, großfamiliale, regionale Bindungen, die neben dem nationalen Identitätsbewusstsein weiterbestehen oder mit ihm fusionieren. Immer aber, wenn die Verbindlichkeit eines solchen Loyalitätspols nachlässt, schiebt sich in der Konkurrenz der verpflichtenden Anbindungen ein neuer Loyalitätsbezug dominierend in den Vordergrund. So hat etwa der frühneuzeitliche Fürstenstaat eine Loyalität erzwungen, die zunächst neben die Loyalität gegenüber einem Adelsherrn oder einem städtischen Gemeinwesen trat, dann aber diese zu verdrängen suchte; schließlich wurden im Verlauf des inneren Staatsbildungsprozesses solche ehemals autonomen Herrschaftsträger zu abhängigen intermediären Gewalten, ehe sie im 19. Jahrhundert ganz entmachtet wurden.

Da der Nationalismus eine neuartige Loyalitätsverpflichtung darstellt, taucht unabweisbar die Frage nach dem spezifischen historischen Kontext und den Antriebskräften seiner Genese auf: Wann, wo, wie und vor allem warum entstand der Nationalismus? Da der Nationalismus sich anfangs seine Nation schafft, indem er bereits bestehende Herrschaftsverbände umbaut, ist das die erste Frage. Daran schließt sich die zweite nach der Natur des „Rohmaterials“ an, aus dem das nationale Weltbild geformt wurde.

Die erste Frage wird angeleitet von der These, dass der Nationalismus nicht allein ein Phänomen des okzidentalen Kulturkreises, sondern dort auch wieder nur der europäischen Neuzeit ist. Folgt man der bewährten Denkfigur von „Challenge“ und „Response“: der „Herausforderung“ durch eine historische Situation und der „Antwort“ darauf, lautet die Frage in diesem Fall, welche Herausforderung als Antwort den Nationalismus auf seine Siegesbahn setzte. Auf welche Optionen, die im Haushalt des Zeitalters gespeichert vorlagen, traf die Herausforderung?

Der Nationalismus entsteht als Antwort auf strukturelle Krisen der frühmodernen westlichen Gesellschaften und ihrer ehemals verbindlichen Weltbilder – in der Sprache der modernen Sozialwissenschaft: er geht aus einer kritischen Phase „fundamentaler Verunsicherung“ des „Regelvertrauens“ hervor. Die klassische Zuspitzung dieser Modernisierungskrisen ist die Revolution. Revolutionen setzen die Erosion der alten Ordnung mit der Folge einer Delegitimierung des traditionellen Institutionengefüges, insbesondere des Herrschaftssystems, voraus. Häufig geht der Kampf um politische Autonomie, nicht selten richtet er sich gegen faktische oder befürchtete Fremdherrschaft. Religiöse Konflikte schüren die Auseinandersetzung, etwa zwischen einem traditionsbewussten Katholizismus und einem siegesbewussten Protestantismus, insbesondere in der radikalisierten Variante des Calvinismus, aber auch zwischen Erlösungsreligion und Säkularisierung als Folge der „wissenschaftlichen Revolution“ oder der Aufklärung. Die überkommene Hierarchie der Ständegesellschaft wird, da der Kapitalismus vordringt, durch „marktbedingte Klassen“ (Max Weber) infrage gestellt. Neue Machteliten melden ihre Ansprüche an. Die traditionsgeheiligte Herrschaftslehre des fürstlichen Gottesgnadentums wird angezweifelt und gerät unter Rechtfertigungsdruck.

Coups zur Machtergreifung, Überlagerung durch Fremdherrschaft, Sturz eines Tyrannen – solche Zäsuren gibt es in vielen Kulturkreisen. Aber nur im Westen gibt es, bis ins 20. Jahrhundert hinein, diese Art der Revolution als „klassischer“ Modernisierungskrise, nur dort die Voraussetzungen, den allgemeinen Kontext, die Ideen, Sozialformationen und Legitimationskämpfe, welche den Sieg der neuen Kräfte ermöglichen. Eben deshalb entsteht auch nur dort der Nationalismus.

Als entscheidend erweist sich die Zuspitzung zu einer tiefen Legitimationskrise, die weder mit den herkömmlichen Zwangsmitteln noch mit dem Rekurs auf bisher bewährte disziplinierende Weltbilder gelöst werden kann. Das ist der Kairos des Nationalismus. Denn er verspricht jetzt, die Herrschaftsordnung und das Gemeinwesen auf eine neue Legitimationsbasis: auf den Willen der souveränen Nation, zu stellen und vertraut fortab auf seine mobilisierenden und integrierenden Fähigkeiten. Insofern ist der aufsteigende Nationalismus im Kern ein politisches Phänomen im Kampf um Herrschaft und ihre Legitimierung.

Zum ersten Mal tauchte die revolutionäre Konstellation im Unabhängigkeitskampf der nördlichen Niederlande gegen die spanische Herrschaft zur Zeit Philipps II. auf. Diese Provinzen hatten seit der Epoche des burgundischen Machtkomplexes ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, das durch weitreichende ständische Autonomierechte gestützt wurde. Der Calvinismus, der sich dort anstelle des Luthertums durchgesetzt hatte, opponierte gegen den orthodoxen Katholizismus der anstürmenden Gegenreformation. Ein spanisches Heer unter Herzog Alba suchte seit 1567 durch Terror neue Fügsamkeit zu erzwingen, trieb aber dadurch 1568 Adel und Patriziat der Niederlande in den offenen Aufstand, der in einen langwierigen Sezessionskrieg überging. 1581 sagten sich die nördlichen Provinzen von Spanien los: In einem formellen Gründungsakt bildeten sie die selbständige protestantische Republik der Vereinigten Niederlande als Föderation von sieben Regionaleinheiten, die auf genossenschaftlicher Basis, nicht im Stil des bürokratisierten absolutistischen Zentralstaats, zusammenwirkten.

Zum ersten Mal hatte damit eine Peripherie im Kampf gegen das Zentrum, ein übermächtig wirkendes Weltreich, gesiegt. Dank seines hochentwickelten Handelskapitalismus, seiner Kapitalressourcen und seiner Seemacht galt „Holland“ ohnehin schon den Zeitgenossen als europäische „Pioniergesellschaft“, deren Vorsprung auch im politischen und sozialstrukturellen Bereich beneidet und imitiert wurde. An diesen Sieg in einem revolutionären Unabhängigkeitskampf, in dem sich die Empörung über Fremdherrschaft, religiösen Suprematieanspruch und Autonomieverlust vereinte, und an die Modernität einer „Pioniergesellschaft“ heftete sich seither ein stolzes Eigenbewusstsein, das durchaus schon Züge des künftigen Nationalismus aufwies. Die monarchische Welt Alteuropas tröstete sich damit, dass eine Republik, wie das Schweizer Beispiel angeblich zeigte, nur als die Verfassung kleiner Staatswesen fungieren könne.

Das Gegenteil bewiesen die beiden folgenden „klassischen“ Revolutionen des Westens: die Englische und die Amerikanische Revolution. Die universalhistorisch entscheidende Zäsur vollzog die Englische Revolution zwischen 1642 und 1659. Wie später als Modell der ersten Industriellen Revolution wurde England jetzt zeitweilig auch zur politischen „Pioniergesellschaft“. Aus der Opposition gegen den königlichen Absolutismus und die mit ihm verbundene Abwertung des selbstbewussten Parlaments, gegen die Berufung König Jakobs I. (1603–1625) und Karls I. (1625–1649) auf die angeblich gottgewollten Kronrechte und gegen deren Bemühen um Versöhnung mit der römischen Kurie ging der verhärtete Widerstand eines selbstbewussten Adels und der protestantisch-anglikanischen Staatskirche hervor, der durch den religiösen Fundamentalismus der calvinistischen Puritaner noch gesteigert wurde. Die politisch-puritanische Opposition mündete seit 1642 in den offenen Konflikt mit der Krone und ihren Alliierten.

Dieser Bürgerkrieg gewann durch die kompromisslose Ablehnung einer Rückkehr zum Katholizismus eine Freund-Feind-Dimension, die auch aus der spätestens seit 1585 anhaltenden kriegerischen Rivalität mit der katholischen Großmacht Spanien genährt wurde. Als der König im Januar 1649 von der siegreichen Opposition hingerichtet wurde, setzte sich auch in England unter dem „Protektorat“ Oliver Cromwells die Republik unter anderem Namen als „Commonwealth“ durch. Zehn Jahre lang hielt sich das „Commonwealth“- und „Protektorats“-Regime Cromwells und...

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