Wenn Zeit allein nicht heilt - Komplizierte Trauer begleiten

Wenn Zeit allein nicht heilt - Komplizierte Trauer begleiten

von: Willi Butollo, Gabriele Pfoh

Patmos Verlag, 2016

ISBN: 9783843605335

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 1632 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wenn Zeit allein nicht heilt - Komplizierte Trauer begleiten



1. Sterben, Tod und Trauer – früher und heute


Sterben, Tod und Trauer gehören zur Geschichte der Menschheit. Religionen entstanden ja unter anderem auch aus dem Grund, die Angst vor dem eigenen Tod und die Trauer um die Verstorbenen erträglicher zu machen. Tatsächlich war der Umgang mit Tod und Trauer für die längste Zeit primär in der Domäne der Religionen angesiedelt. Die Erklärung dafür, warum ein Mensch stirbt und was mit ihm post mortem geschieht, findet sich zum Beispiel im christlichen Glauben in der Annahme, dass es sich dabei um Gottes Willen handele und dass der Mensch zu ihm (zurück)kehre; religionsimmanent ergibt dies einen Sinn und soll gleichzeitig trostspendend sein. Andere Religionen folgen ähnlichen Denkprinzipien, auch wenn sich diese – gemäß dem jeweiligen Religionsverständnis – anders darstellen. So ist zum Beispiel im Buddhismus nicht das weitere Leben oder das Weiterleben erstrebenswert, sondern das ultimative Ende, das Nirwana.

Die Orientierung zur Religion hin hat sich aber in der Neuzeit zumindest in Mitteleuropa deutlich geändert. Logisches Denken und kritisches Hinterfragen haben im westlichen Kulturkreis die uneingeschränkt übernommenen Lehren der Religionen zurückgedrängt. Andere Wissenschaften, voran die Psychologie, Sozialwissenschaften und Medizin, haben sich ebenso des Themas Tod und Trauer angenommen. Sterben und Tod haben sozusagen einen Sinneswandel erfahren. Das Konstrukt Trauer ist dadurch deutlich komplexer und facettenreicher geworden.

Durch viele Jahrhunderte hinweg bezeugen Literatur, Architektur, Kunst und Musik das Leid vieler Menschen, verursacht durch ihre Trauer. Man bedenke die Verzweiflung des Hiob aus dem Alten Testament, der in seinem Trauerschmerz den Tag seiner Geburt verflucht, und das Märchen der Gebrüder Grimm von Aschenputtel, dem Mädchen, das jeden Tag zum Grab der Mutter geht und weint.

Oder man erinnere sich nur an das prächtige Taj Mahal, das ein indischer Mogul als Grabstätte für seine Frau errichten ließ. Zu ihren Ehren und als Ausdruck seiner Liebe und Verehrung zu ihr, wie es heißt. Es wird aber auch gemunkelt, dass er eine weitere Grabstätte für sich selbst plante, die dem Taj Mahal ähneln sollte, als Ausdruck seiner Verbundenheit zu ihr – auch über den Tod hinaus. Und in seinem Song ›Tears in Heaven‹ betrauert Eric Clapton den Unfalltod seines vierjährigen Sohnes im Jahr 1991 und stellt sich die Frage, wie eine mögliche Begegnung im Himmel wohl aussehen möge.

Wenn es früher hauptsächlich die Religionen waren, die bei Trauer Antwort und Trost geben sollten, haben wir heute große Freiheiten, was unsere Erklärungshilfen und unsere Trauer betrifft und wo wir Rat und Hilfe suchen. Rituale wie das Trauerjahr mit all seinen Umgangsregeln boten einst einen Leitfaden dafür, was zu tun und was zu lassen ist: kein Tanz, keine lauten Feste, dafür schwarze oder gedeckte Kleiderfarben – um nur einige Beispiele zu nennen. Heute stellt sich oft eine Unsicherheit ein, wie man im ersten Jahr »über die Runden kommt« – trotz oder gerade wegen dieser Freiheit, die wir genießen. Bezahlt haben wir unsere Freiheit nämlich mit dem Aufgeben oder zumindest Aufweichen dieser Regeln und Rituale, die eine Struktur in schwierigen Zeiten schafften und uns oft als Stütze dienten.

Ausdruck unserer Trauer findet sich auch in unseren Begräbnisritualen und Begräbnisstätten, welche über die Jahrhunderte ­hinweg und in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Formen annahmen. In unserer westlichen Kultur kennzeichnete fast immer das Begräbnis den Anfang der Trauerarbeit. Begräbnisstätten waren Orte der Verbindung zwischen Lebenden und Toten. Waren Friedhöfe einmal Stätten der Ruhe und Besinnung, wo selbst die Adeligen nicht zu Pferde einreiten durften, sondern von ihrem ›hohen Ross‹ steigen mussten, so herrschte ein andermal reges Treiben und Unterhaltung dort. Die Tradition von Massengräbern wechselte zu Einzel- oder Familiengräbern, in ­neuerer Zeit aber wieder zu modernen Formen des Massengrabes als anonyme Bestattungen auf großen Feldern, in Friedwäldern oder bei Seebestattungen zum Beispiel. Außerhalb unserer deutschen Gesetzlichkeit bezeugt das Verstreuen der Asche in Ozeane oder auf Bergen die Verbundenheit des Menschen mit einem Größeren.

Schnell wird deutlich, dass die Grabstätte selbst nicht mehr immer eine Verbindung mit den Verstorbenen herstellt oder gar gewährleistet. Gräber im Sinne von Gedenkstätten müssen wir dann woanders finden. Sie können die unterschiedlichsten Formen annehmen: der Sessel am Fenster, der Picknickplatz am See, die Parkbank im Wald, eine spezielle Baumart, die überall stehen kann, ein besonderes Panorama, eine bestimmte Wetterlage oder eine Passage einer Sinfonie; eben immer dann und dort, wo die Nähe zur verstorbenen Person gefunden wird. Im Zeitalter der mobilen Gesellschaft ein wichtiger Punkt, der Flexibilität fordert und bietet. So sind Grabstätten und Gräber oft zweierlei. Grabstätten sind da, wo die Verstorbenen bestattet sind. Gräber sind dort, wo wir den Verstorbenen nahe sind.

Außerdem fordert unsere Gegenwart im Rahmen der sogenannten Integration auch gesetzliche Anpassungen an die Trauerrituale nicht christlicher Religionen, z. B. wenn religiöse Einstellungen eine Erdbestattung ohne Sarg vorsehen.

Auch die Riten in Verbindung mit dem nahenden Tod und dem Umgang mit den soeben Verstorbenen haben sich gewandelt. Wenn früher der Sensenmann seinen Tribut forderte, dann kam er in die Häuser der Menschen, denn gestorben wurde meist daheim. Spiegel wurden verhängt und die Fenster geöffnet, um die Seele entweichen zu lassen. Der Leichnam wurde von Angehörigen und Freunden gewaschen, eingekleidet und aufgebahrt. Das sonst private Haus wurde zu einem öffentlichen. Angehörige, Freunde, Nachbarn, das ganze Dorf kam, um sich zu verabschieden. Totenwache war Ehrensache und sollte verhindern, dass die Toten als Geister zurückkehrten. Alle halfen. Kinder wurden nicht ferngehalten; auch sie nahmen an diesen Abschiedsritualen teil. Jeder wusste, dass der Leichnam mit den Füßen voraus aus dem Haus getragen werden musste, damit sein Geist nicht zurückkehrte. Und alle standen Spalier, wenn dies geschah. Der Tod war ein Teil des Alltags und Sterben geschah im Kreis der Familie. Entsprechend beeinflusste dies die Art zu trauern. Die Unterstützung durch die Gemeinschaft war und ist dabei ein wichtiger Baustein.

Heute finden sich diese Bräuche hierzulande kaum noch, höchstens in ländlichen Gebieten; oder wieder in der Zusammenarbeit mit Bestattungsinstituten, die die Hinterbliebenen auf besondere Weise an den entsprechenden Ritualen teilnehmen lassen. In abgewandelter Form gibt es solche Bestattungsriten aber zum Beispiel in den USA, bei den sogenannten »wakes«. Oder wir finden es beim Schiv’a-Sitzen in der jüdischen Tradition.

Wenn die Menschen früher zu Hause starben, so sterben heutzutage die meisten im Krankenhaus oder in anderen Institutionen. Todesursache ist, in den Augen der meisten Angehörigen, nicht mehr in erster Linie Gottes Wille, und es ist auch nicht mehr der Sensenmann, der sein Opfer abholt; Ursache des Todes ist das Versagen oder die Grenzen menschlicher und medizinisch-technischer Fähigkeiten.

Die Totengräber von einst sind heute moderne Bestattungs­unternehmen oder Friedhofsangestellte. Oft werden die Toten schnell vom Ort des Sterbens entfernt und in Kühlfächern ­aufbewahrt, bevor der Leichnam entsorgt wird. Große städtische Friedhöfe hängen lange Listen mit den Namen der Verstorbenen aus, deren geschlossene Särge oder Urnen hinter Schaufenstern ­ausgestellt sind und deren Standort mit GPS-ähnlichen Angaben gefunden werden kann. Die Trauerfeiern werden im Viertelstundentakt der großen urbanen Friedhöfe abgewickelt und vielfach nur von den nächsten Angehörigen besucht. Bestattungsriten ­werden von Fremden zelebriert, die weder die Verstorbenen kannten noch deren Angehörige kennen. Die Bestattung reduziert sich auf ein fast artifizielles Ritual, das einer emotionalen Stütze oft gänzlich entbehrt. Kinder werden von den Verstorbenen oder Begräbnissen ferngehalten, um sie mit diesen Dingen nicht zu belasten.

Obwohl diesen modernen Ritualen und Gepflogenheiten keine Pietätlosigkeit unterstellt werden darf, so bezeugen sie doch eine Auslagerung des Themas Tod aus unserem Leben. Unsere Trauer findet dadurch keinen Anker. Die Beziehungen des Alltags sollen möglichst wenig von dem Verlust und seinen emotionalen Folgen »tangiert« werden, ein Ausdruck der Dissoziation des Todes aus dem Leben – und damit der Verarmung des Lebens und der gelebten Beziehungen. Denn die Kontrollierbarkeit unserer Existenz soll offensichtlich nicht in Frage gestellt werden.

Auch unsere innere Erwartungshaltung gegenüber dem Tod hat sich verändert. Fortschritte der modernen Medizin tragen nicht unwesentlich zu unserer stetig steigenden Lebenserwartung bei. So betrachten wir heute Kindersterblichkeit deutlich anders, als es unsere Vorfahren taten. Es erreichten zum Beispiel von Albrecht Dürers siebzehn Geschwistern insgesamt nur zwei das Erwachsenenalter. Und dass die Lebenserwartung von Frauen heute über der von Männern liegt, hat unter anderem mit der Bewältigung des Kindbettfiebers zu tun, dem viele junge Frauen in früherer Zeit zum Opfer fielen. Entsprechend folgern wir heute, dass die Alten vor den Jungen sterben, und betrachten die Statistiken als normal, die uns mitteilen, dass Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer.

Insgesamt kann man postulieren, dass unsere große Freiheit im Umgang mit Tod und Trauer uns auch ein Stück Sicherheit gekostet...

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