Irdische Lust - Liebe, Sex und Sinnlichkeit im Mittelalter

Irdische Lust - Liebe, Sex und Sinnlichkeit im Mittelalter

von: Jean Verdon

Primus-Verlag GmbH, 2011

ISBN: 9783863127558

Sprache: Deutsch

198 Seiten, Download: 3318 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Irdische Lust - Liebe, Sex und Sinnlichkeit im Mittelalter



2.
Der Akt selbst


Was wissen die Mediziner?1


Mediziner der Schule von Bologna sezieren Ende des 13. Jahrhunderts menschliche Leichen. Das ermöglicht die genaue Beschreibung der Genitalien. Während des Hochmittelalters haben sich die Klosterschulen in der Tat gar nicht mit Gynäkologie und Geburtshilfe beschäftigt, und bis zum Ende des 11. Jahrhunderts kannte der Westen nur eine einzige gynäkologische Abhandlung, und zwar die von Muscio: ein gekürzter und im 6. Jahrhundert ins Lateinische übersetzter Text nach dem Werk des Soranus von Ephesus.

Jacques Despars glaubt im 15. Jahrhundert, dass es Drüsen an der Peniswurzel gibt, die Feuchtigkeit verursachen; diese sei dem Speichel ähnlich und vergrößere die Lust während des Sexualaktes.

Die weiblichen Geschlechtsorgane, vor allem die äußeren, werden zwar nicht vergessen, allerdings bleibt ihre Beschreibung meist sehr ungenau. Die Klitoris etwa erwähnen einige Schriften gar nicht, während andere auf sehr ungeschickte Weise davon sprechen. Auf jeden Fall scheinen die Mediziner die weibliche Empfindsamkeit nicht völlig zu ignorieren. Nach den Vorstellungen Pietro d’Abanos wird das Begehren der Frauen durch das Reiben der oberen Öffnung zum Schambein hin angeregt. Die Lust, die aus diesem Körperteil entspringt, lässt sich tatsächlich mit der vergleichen, die aus der Berührung des Gliedes, besonders der Eichel, erwächst. Aber erst in der Renaissance stellt Gabriel Fallope den Zusammenhang zwischen der Klitoris und einer spezifisch weiblichen Lust heraus.

Schreiten wir von der Anatomie zur Physiologie voran.

Guillaume de Conches äußert im 12. Jahrhundert die Ansicht, dass eine Frau Lust zeigen müsse, um schwanger zu werden, denn die Lust ermögliche die Ausschüttung des Samens, also die Befruchtung. Bei Prostituierten, die ihren Körper für Geld verkaufen und keinerlei Vergnügen während des Aktes verspüren, finde keine Ausschüttung statt, weshalb sie nicht empfangen.

Man kann natürlich einwenden, dass vergewaltigte Frauen demzufolge nicht schwanger werden dürften. Pessimistisch hinsichtlich der menschlichen Natur, ja sogar zynisch, erwidert Guillaume darauf: »Obwohl bei der Vergewaltigung der Akt zu Beginn missfällt, findet sie am Ende – da hilft die Schwäche des Fleisches – Zustimmung.« Und so findet die Lehre des Guillaume de Conches, die sich aus Ideen des griechischen Arztes Galen (um 131–201) über das weibliche Sperma speist, im ausgehenden Mittelalter große Verbreitung.

Die Anhänger der aristotelischen Lehre schränken die Rolle des weiblichen Spermas bei der Entstehung des Embryos ein. Gilles de Rome geht Ende des 13. Jahrhunderts davon aus, dass eine Frau bei einem Koitus interruptus und ohne einen Orgasmus gehabt zu haben befruchtet werden kann. Damit ist die weibliche Lust für die Empfängnis nicht erforderlich, denn die Vulva ist fähig, das Sperma selbst ohne Koitus anzuziehen: Berichtet der arabische Arzt und Philosoph Averroës (12. Jahrhundert) doch, dass eine seiner Nachbarinnen durch das Bad in Wasser schwanger wurde, in dem ein Mann sein Sperma vergossen hatte!

Aus diesen Ausführungen ergibt sich eine wichtige Konsequenz. Wenn die Ausscheidung des weiblichen Samens zu vernachlässigen ist, wird die Lust einzig durch das männliche Sperma hervorgerufen. Somit muss sich der Mann nicht mehr um die Lust seiner Partnerin kümmern.

Für den Dominikanergelehrten Albertus Magnus (1206–1280) tritt der Zusammenhang zwischen Lust und Fruchtbarkeit nicht deutlich zutage. Aus Berichten von Frauen weiß er, dass viele von ihnen keinerlei Vergnügen bei der Empfängnis verspürt haben. Er erklärt dies damit, dass erotische Träume eine Ausscheidung hervorrufen und Lust bereiten können, selbst wenn diese nicht bewusst gesucht wurde. Damit die Frau schwanger wird, reicht es also, so schreibt er, dass die Gebärmutter die Flüssigkeit nach der Ausscheidung anzieht und sie bis zur Befruchtung behält, die dann ohne erneute Ausscheidung eintreten kann, also ohne Lust.

Im Unterschied zu den Geistlichen sehen die Mediziner im Geschlechtsakt vor allem ein entscheidendes Element für die Gesundheit. Nach einem anonymen Autor des 13. Jahrhunderts wünschen viele Männer den Koitus, um Lust zu empfinden, und sehr wenige, um Söhne zu zeugen.

Die Mediziner beschäftigen sich vor allem mit der männlichen Physiologie. Erektion und Ejakulation finden vor allem, so glaubt man, unter dem Einfluss von Blähungen und der Atmung statt. Gemäß Galen, auf den sich zahlreiche mittelalterliche Mediziner berufen, vollzieht sich etwas Ähnliches wie bei der Ansammlung brennender Flüssigkeit unter der Haut, bei deren Bewegung ein angenehmes Jucken entsteht. »Wenn diese Körperteile darüber hinaus zum gleichen Zweck von Natur aus mit einer höheren Sensibilität ausgestattet sind als die Haut, darf man sich weder über den lebhaften Genuss wundern, der von diesen Körperteilen ausgeht, noch über die Sehnsucht, die diesem Genuss vorausgeht.« Diese Lust wird folgendermaßen gerechtfertigt: Da der Mann nicht immer klug ist, hat ihm die Natur eine Stimulation mitgegeben, um die Art zu vermehren. Eine Reihe mittelalterlicher Autoren, wie beispielsweise Constantinus Africanus, haben sich dieses Argument zu eigen gemacht, wobei sie häufig anfügen, dass die Lust es ermöglicht, den Ekel bei der Benutzung beschämender Organe zu überwinden.

Die Tatsache, dass die beiden Geschlechter unterschiedlich reagieren, lässt die Gelehrten über den psychologischen Aspekt der sexuellen Lust nachdenken. Warum zeigt die Frau, die von Natur aus kälter und feuchter ist als der Mann, ein leidenschaftlicheres Begehren? Das feuchte Holz lässt sich schwieriger entflammen, dafür brennt es länger, könnte man erwidern. Die Lehre des Aristoteles legt eine andere Antwort nahe. Das Übermaß an Feuchtigkeit und die Passivität der Frau sorgen dafür, dass sie immer bereit für den Koitus ist; dieser macht sie müde, doch nicht satt. Seit dem 13. Jahrhundert wird noch eine Präzisierung angefügt: Die weibliche Lust ist quantitativ größer, doch qualitativ kleiner und weniger intensiv. Und die Lust, die eine Erinnerung an erlebte Freuden ist, erklärt, warum die schwangere Frau im Gegensatz zu den Tieren erneuten Geschlechtsverkehr sucht.

Das Mittelalter versucht, die Zusammenhänge zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen aufzuzeigen. Wie zum Beispiel im Fall der Krankheit, die »heroische Liebe« genannt wird. Gemäß Arnaldus de Villanova, einem bekannten katalanischen Arzt an der Wende zum 14. Jahrhundert, erzeugt der Anblick des Objekts im Subjekt Lust: Wenn das im mittleren Hirnventrikel sitzende Einschätzungsvermögen glaubt, dass das Verlangen sehr intensiv ist, halten die Einbildungskraft und die Erinnerung, die in den vorderen und hinteren Ventrikeln lokalisiert sind, die Eindrücke und die Intentionen des Einschätzungsvermögens fest. Eine amouröse Obsession entsteht, wenn das Subjekt die Lust als einziges zu erreichendes Ziel erachtet. Eine zu intensive Liebe hat sein Urteilsvermögen getrübt. Der sexuelle Akt bildet dann das beste Mittel, gegen eine derartige Krankheit anzugehen.

Liebestechnik2

Während in der höfischen Erotik der Akt trotz des ausgeprägten Vorspiels theoretisch verboten ist, sehen die Ärzte darin einen normalen Abschluss. Ihre Abhandlungen erfahren hauptsächlich ab dem 11. Jahrhundert eine entscheidende Systematisierung, die nachfolgenden Perioden beschränken sich auf Ergänzungen.

Eine Vielzahl von Abhandlungen arabischer Herkunft ist vor allem der Sexualhygiene gewidmet. Dennoch tragen die Autoren zur Entstehung einer erotischen Liebeskunst bei. Für den einen passen bestimmte Lesbierinnen aufgrund von Verletzungen nur zu impotenten Männern; er unterscheidet also sehr wohl klitorale und vaginale Lust. Ein anderer empfiehlt, zur Erregung eines jungen Mädchens mit ihren Brüsten zu spielen, denn ihr Samenfluss befinde sich unter den Schlüsselbeinen, die in Verbindung mit der Brust stünden. Ein dritter kritisiert die Männer, die ihre Frau durch einen vorzeitigen Samenerguss oder durch ein zu schnelles Zurückziehen des männlichen Gliedes der Lust berauben. Sich während des Orgasmus an den Haaren zu ziehen, steigere die Wollust, und der Autor beschreibt ausführlich die Positionen, die für diese Praxis geeignet sind.

Daniel Hopfer, Liebespaar. Radierung (1496)

Diese Werke des 12. bis 14. Jahrhunderts haben zum Ziel, die Laien auf diesem Gebiet anzuleiten.

Im Westen enthalten die Secrets des femmes (Geheimnisse der Frauen) über die üblichen Informationen zum Sperma und zur Menstruation hinaus eine Abhandlung über Embryologie. Die Lust wird dort zufällig erwähnt: »Wenn die Frau Beziehungen zum Mann hat, dann wegen der Intensität der Lust, die sie empfindet; weil das erigierte Glied des Mannes an den erregten Nerven und Adern reibt, gibt die sich ausdehnende Vulva Menstruationsblut ab und der sexuelle Akt wird als natürlich angesehen, denn es ist...

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