Gegessen - 13 Jahre zwischen Bulimie und Magersucht - und wie ich endlich heilte

Gegessen - 13 Jahre zwischen Bulimie und Magersucht - und wie ich endlich heilte

von: Sonja Vukovic

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732529698

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 770 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Gegessen - 13 Jahre zwischen Bulimie und Magersucht - und wie ich endlich heilte



I. die fassade fällt


Als mich das Klopfen aus einem seichten Schlaf holt, streicheln bereits die ersten Sonnenstrahlen durch die Rollläden hindurch warm mein Gesicht. Die inzwischen fünftgrößte Stadt der USA, Phoenix, liegt mitten im sogenannten Valley of the sun, der Sonora-Wüste, die mit ihren rund 320000 Quadratkilometern von Mexiko bis Niederkalifornien und bis hierher, dem südwestlichen Teil von Arizona, reicht.

Um sechs Uhr morgens steht die Sonne schon steil und strahlt dann im Durchschnitt 13 Stunden am Tag, 325 Tage im Jahr. Zehn Monate lang bringt der Sommer Bedingungen, die bei uns in Europa als Klimakatastrophe gelten würden: Wenn man nicht aufpasst, bleibt Straßenteer an den Schuhen kleben, Wasser verdunstet quasi noch beim Auskippen, und viele Wagen fahren mit kaputten Reifen oder ohne Scheibenwischer, weil die Strahlen der Sonne das Gummi zerstören.

Alles, was ein Dach und Türen hat, ist darum auch mit Air Conditioning ausgestattet. An manchen Tagen ziehen Klimaanlagen in der Region mehr als die Hälfte des Stroms im Bundesstaat Arizona.

Für mich sind die Räume wie Kühlschränke.

Ich war schon immer ein Sonnenkind, und seit ich als Austauschschülerin hier lebe, nutze ich jede Gelegenheit, um draußen zu sein. Auch bei 40 Grad. Die McFinns, meine Gasteltern, schütteln lächelnd den Kopf, wenn sie mich von drinnen aus auf der Veranda oder im Garten hinter dem Haus lernen oder Sport machen sehen. Zur Hitze kommt eine Luftfeuchtigkeit von bis zu 50 Prozent hinzu, das macht jede Bewegung anstrengend, man schwitzt schnell.

Mir gefällt das. Mir gefällt alles hier – vor allem die Gewissheit, dass jetzt endlich alles anders wird. Dass ich nicht mehr an ihn denken muss. Nicht mehr an die Scham. Und vor allem: kein Fressen und kein Kotzen mehr. Stattdessen Sport und lernen. Und was soll ich sagen? Es geht. Wahnsinn, es geht wirklich!

Gabbie, Tom und ihre Tochter July sind alle drei fat. So nennen sie sich selbst: fett.

Sie sind warmherzige, lebenslustige Genussmenschen. Ich mochte sie auf Anhieb sehr!

Am ersten Tag bei ihnen zu Hause staunte ich nicht schlecht, als jeder für sich allein eine Familienpizza aß. Als ich sie probierte, verstand ich aber, wieso man davon kaum genug bekommen kann. Der Boden war sehr dünn und knusprig, der Rand weich und von einer unglaublich leckeren Öl-Würzmischung überzogen. Über scharfer, feiner Salami und knackigen Zwiebeln zerliefen drei verschiedene Sorten Käse. So eine Pizza hatte ich bis dahin noch nie gegessen. Dieser Mischung aus salzig-süßem Hefeteig und fettig-deftigem Belag konnte auch ich nicht widerstehen. Und noch im selben Moment, als ich mir ein weiteres Stück nahm, obwohl ich bereits satt war, graute mir schon vor dem, wovor meine Austauschorganisation Building Bridges (BB) uns gewarnt hatte: In der Vorbereitung auf das Austauschjahr hatten sie uns darauf hingewiesen, dass die Körper von Jugendlichen oft einige Monate brauchen, um sich an das Essen und das ungewohnte Klima zu gewöhnen. Ihre Haut wird oft pickelig und viele kommen mit zehn oder sogar mehr Kilos zusätzlich zurück aus den USA. Vor allem Letzteres eine Horrorvorstellung!

So wollte ich nicht enden. Die vergangenen zwei Jahre hatte ich zu hart meinen »Babyspeck« bekämpft, wie ihn meine Mutter und meine Oma gern nannten. Gut 15 Kilo hatte ich zu viel auf den Hüften gehabt.

Das Schwitzen und der Sport in der Hitze sollen mir gegen das Ansetzen neuer Pfunde helfen. Ich suche geradezu nach jeder Gelegenheit, Wasser, Kalorien und Gifte zu verlieren, viel Flüssigkeit nachzutrinken und, so weit mein heller Hauttyp das zulässt, Farbe zu gewinnen. Gebräunt sieht man schlanker aus.

Am Abend creme ich mich mit diesen süßen Vanille-Après-Lotions ein, die es hier in den überdimensionierten Grocery Stores gibt. In den USA haben Hygiene-Artikel Geschmack. Und sie duften nach Essen. Lebensmittel bekommt man in Ein-, Zwei- oder Fünf-Pfund-Boxen – Cornflakes und Milch, Steak am Knochen und Joghurt, Chips und Schokolade. Nach Belieben all das auch in den Varianten no fat, zero calories, low carbs oder light. Aber das schmeckt nicht und ist wegen der Zusatzstoffe auch nicht wirklich gesünder.

Das Amerika, das ich erlebe, ist extrem in jeder Hinsicht. Das Essen, das Wetter, das politische Geschehen. Doch als sei das nicht genug, wird auch sprachlich alles immer in Superlative gesetzt – sogar die Verniedlichungen. Alles ist amazing, gorgeous, pretty, sweetie, Hunde sind doggys, Katzen sind kitties.

Und ich bin jetzt Sunny – sunny, wie sonnig.

»Du lachst auch immer und strahlst richtig. Sunny ist der perfekte Spitzname für dich«, sagte Gastmutter Gabbie und lächelte warm.

Gabbie heißt eigentlich Gabriela. Sie ist 52 und arbeitet als Krankenschwester. Tom, 53, macht etwas mit IT. Außerdem engagieren sich beide in ihrer Baptisten-Gemeinde für Kinder, managen Jugendprojekte und nehmen als Betreuer an Reisen mit Kindern teil, deren Eltern ihnen das aus finanziellen, gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht ermöglichen können. July, 21, ist die Jüngste von insgesamt fünf Kindern, sie wohnt als Einzige noch daheim – und ich bin die erste Austauschschülerin, die bei den kinderlieben McFinns leben darf, nachdem die eigenen vier Söhne schon einige Jahre aus dem Haus sind.

Ich liebe es. Die Gastfamilie, die Schule, meine neuen Freunde. Und natürlich die Wärme und das Licht, die sich wie Komplizen schon morgens durch die Rollläden in mein Zimmer stehlen. All das macht mich endlich glücklich. Mit 16 Jahren fängt mein Leben an. Endlich!

Dieser Morgen ist anders.

»Sunny!«, ruft mein Gastvater Tom durch die Holztür. Er klopft wieder an, und es braucht ein paar Sekunden, ehe ich richtig wach bin und begreife, dass er in mein Zimmer möchte. Ein Blick auf den Digitalwecker rechts neben meinem Kingsize-Bett – die Betten hier sind so weich und groß, ich könnte ewig darin schlafen: Es ist 6:40 Uhr, Horizon High School startet heute doch erst um neun Uhr!

Ich ziehe die Decke komplett über mich drüber und murre: »Yaaaa. You can come in, Tom«, »Du kannst reinkommen.«

Tom öffnet die Tür. »It’s your mum«, sagt er und hält mir das schnurlose Telefon hin.

»Hallo Mama«, sage ich und bemerke, dass meine Stimme ein wenig weiterschläft. »Was ist denn los?«

»Ja, das will ich dich fragen, Sonja. Was ist bei euch los?«

»Wie? Was meinst du?«

»Hast du denn nichts gesehen? Das mit den Flugzeugen.«

»Was für Flugzeuge, Mama? Ich liege noch im Bett. Es ist noch nicht mal sieben Uhr. Normalerweise würde ich noch eine gute Stunde schlafen!«

»Ach, habe ich ganz vergessen, hier ist ja Nachmittag. Tut mir leid, ich bin etwas aufgeregt. Du musst mal den Fernseher anmachen, da sind zwei oder drei Flugzeuge gleichzeitig abgestürzt, in New York und in Washington D. C. Und die vermuten, das waren Terroristen.«

»Was?«

Noch bin ich nicht in der Lage, einschätzen zu können, ob wirklich etwas Schlimmes geschehen ist oder ob meine Mutter sich wieder einmal zu viele Sorgen macht.

»Mama, ich muss erst einmal aufwachen. Kann ich dich später zurückrufen?«

»Ja, mach das. Aber geh am besten heute nicht in die Schule. Bleib zu Hause. Wer weiß, was noch passiert.«

»Ja, Mama … mal schauen.«

»Pass auf dich auf.«

»Ja, Mama.«

»Und melde dich.«

»Ja. Mama. Mache ich«

»Tschüss, bis später. Melde dich auf jeden Fall, ja?«

»Ja, bis später.«

Gleich links neben meinem Zimmer, das eigentlich das Zimmer des ältesten Sohnes der McFinns, Marc, 34, ist, liegt ein Bügel- und gleich dahinter das Schlafzimmer von Tom und Gabbie. Gegenüber davon ist das Bad. Ich gehe rein, lasse kaltes Wasser ins Waschbecken laufen und stecke mein Gesicht hinein, trockne es ab und gehe schnell wieder raus. Normalerweise dusche ich sofort nach dem Aufstehen, um fit zu werden und klar denken zu können. Aber jetzt muss ich wissen, was passiert ist.

Als ich durch den Flur zum Wohnzimmer gehe, sehe ich, dass Tom und Gabbie es genauso gemacht haben. Sie sitzen mit zerzausten Haaren, kleinen Augen und großen Tassen Kaffee in ihren Pyjamas auf dem beigen Viskose-Teppichboden vor dem Sofa und starren den Fernseher an. Verschiedene, aufgeregte Stimmen kommen aus dem Gerät, aber so auf die Schnelle verstehe ich nicht genau, was sie sagen. Zumindest erschließt sich mir der Zusammenhang nicht.

Es wird Monate dauern, bis irgendjemand die Zusammenhänge dieses Tages vollständig herausfinden und Gründe für das benennen kann, was allem zum Trotz wohl immer unbegreiflich bleiben wird.

Ich verstehe jetzt erst einmal gar nichts. Nach zwei Monaten in Amerika kann ich immer noch nicht perfekt Englisch sprechen, hinzu kommt, dass das Amerikanische ganz anders klingt als britisches Englisch. Bei vielen Vokabeln rate ich noch, was sie bedeuten können. Verdammt, hätte ich doch in der Schule besser aufgepasst! Oder wäre ich doch einfach klüger und könnte mir alles besser merken!

Andererseits: Ich denke immer, dass ich etwas falsch mache. Falsch bin. Auf jeden Fall nicht gut genug. Das ist eine Macke, die ich einfach nicht loswerde, auch wenn mein Kopf es eigentlich besser weiß. Weiß, dass ich zu streng zu mir selbst bin. Aber wann immer etwas besonders laut ist, besonders hektisch,...

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