India Place - Wilde Träume (Deutsche Ausgabe)

India Place - Wilde Träume (Deutsche Ausgabe)

von: Samantha Young

Ullstein, 2014

ISBN: 9783843709965

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 3153 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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India Place - Wilde Träume (Deutsche Ausgabe)



Kapitel 1


Edinburgh


Oktober

An meinem ersten Arbeitstag als Lehrerin, als ich auf die Kopfsteinpflasterstraßen von Edinburgh hinausgetreten war, hatte ich mir etwas geschworen: Ich wollte alles tun, um einen persönlichen Zugang zu meinen Schülern zu finden.

Auch wenn das hieß, dass ich sie – und mich – mit meinen miserablen zeichnerischen Fähigkeiten in Verlegenheit brachte.

Ich nahm die Folie mit meinen stümperhaften Illustrationen vom Projektor und legte eine neue hin, auf der zwei Sätze standen.

Dann ließ ich den Blick über meine kleine, aus sechs Erwachsenen zwischen vierundzwanzig und zweiundfünfzig Jahren bestehende Klasse schweifen und lächelte schief. »So leid es mir auch tut, Ihnen meine genialen künstlerischen Fähigkeiten vorzuenthalten – ich glaube, es ist besser, wenn ich die Folie verschwinden lasse.«

Portia, mit zweiundfünfzig meine älteste Schülerin, grinste breit. Sie hatte immer gute Laune, mit der sie die oftmals angespannte Atmosphäre in dem kleinen Klassenzimmer auflockerte. Auch Duncan, ein dreiunddreißigjähriger Mechaniker, ließ ein belustigtes Schnauben hören, doch die übrigen vier in der Klasse starrten mich lediglich mit fast schreckhaft geweiteten Augen an, als wäre alles, was ich sagte und tat, ein Test für sie.

»Jetzt, wo Sie sich die Worte aus dem Sichtwortschatz eingeprägt und dank meiner bescheidenen Zeichenversuche hoffentlich auch in ihrer Bedeutung verstanden haben, sollen Sie sich mit ihrem Gebrauch in alltäglichen Sätzen vertraut machen. Für den Rest der heutigen Stunde möchte ich Sie bitten, jeden dieser beiden Sätze zehnmal abzuschreiben.« Ich beobachtete, wie die vierundzwanzigjährige Lorraine, eine ungeduldige und reizbare Schülerin, auf ihrer Unterlippe kaute. Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was sie ihrer Lippe antun würde, wenn sie erst meine nächste Aufgabe zu hören bekam. »Ich habe hier zwei kleine Büchlein für Sie. In dem einen stehen einzelne Wortbilder, im anderen ganze Sätze, die aus diesen Wortbildern zusammengesetzt werden können. Bitte suchen Sie sich als Hausaufgabe zehn dieser Sätze aus, die Sie dann jeweils zehnmal aufschreiben. Bitte bringen Sie die Hausaufgaben nächste Woche zum Unterricht mit.«

Lorraine wurde blass, und prompt zog sich mein Herz vor Mitgefühl zusammen. Lorraine war ein Paradebeispiel dafür, weshalb ich mich entschieden hatte, ehrenamtlich einen Erwachsenen-Alphabetisierungskurs im örtlichen Gemeindezentrum zu leiten. Einige Leute – wie zum Beispiel meine Freundin Suzanne – waren der Ansicht, ich könne nicht ganz richtig im Kopf sein, wenn ich während meines Referendariats als Englischlehrerin an einer Highschool in meiner Freizeit noch zusätzliche Kurse unterrichtete – und das ohne Bezahlung. Vielleicht hatten diese Leute recht, mein Arbeitspensum für die Schule war hoch, aber immerhin konnte ich mir den Alphabetisierungskurs mit einer anderen Lehrkraft teilen, so dass ich nur einen Abend pro Woche dafür opfern musste. Außerdem gab mir meine ehrenamtliche Arbeit endlich mal das Gefühl, etwas Sinnvolles zu leisten. Den Nutzen meiner Arbeit an der Schule zu erkennen fiel mir da oft wesentlich schwerer. Ich ahnte, dass ich noch häufiger während meines Berufslebens das Gefühl haben würde, trotz bester Bemühungen nicht das Geringste ausrichten zu können. Bei meiner Arbeit als Ehrenamtliche hingegen erfuhr ich diese Genugtuung jeden Tag. Die Erwachsenen, die ich unterrichtete, waren größtenteils arbeitslos, mit Ausnahme von Portia und Duncan. Duncan war von seinem Arbeitgeber dazu aufgefordert worden, seine Lese- und Schreibfertigkeiten zu verbessern. Und Portia, die sich bisher mit rudimentären Kenntnissen im Lesen und Rechnen durchgeschlagen hatte, war eines Tages zu dem Schluss gekommen, dass sie sich damit nicht länger zufriedengeben wollte. Den anderen jedoch fiel es aufgrund ihrer mangelnden Sprach- und Kommunikationsfertigkeiten schwer, einen Job zu behalten.

Natürlich war mir klar, dass Analphabetismus in diesem Land nach wie vor ein großes Problem darstellte, aber da ich selbst aus einer Akademikerfamilie kam und leidenschaftlich gern las, hatte ich mich bislang noch nie näher mit dem Thema auseinandergesetzt. Bis zum vergangenen Jahr.

Während meiner Lehrerausbildung hatte ich ein Erlebnis gehabt, das mir auf ewig im Gedächtnis bleiben würde: Während eines Gesprächs mit dem Vater eines Schülers merkte ich, wie dieser plötzlich ganz nervös wurde, nachdem ich ihn gebeten hatte, sich die Schularbeiten seines Sohnes anzusehen. Ihm brach buchstäblich der Schweiß aus, bis er schließlich mit stockender Stimme gestand, dass er sie nicht lesen könne. Und als er zuvor eine Einverständniserklärung unterschreiben sollte, damit seine Tochter mit der Klasse eine Theateraufführung von Was ihr wollt besuchen konnte, hatte er mit zitternder Hand einen völlig unleserlichen Schnörkel aufs Papier gekritzelt.

Seine Angst und Scham gingen mir sehr nahe. Ich hatte Tränen in den Augen, so sehr bedauerte ich den Mann – ein erwachsener Mann, der sich beim Anblick von ein paar Wörtern auf einem Blatt Papier völlig verloren und hilflos fühlte. Es war hart, seinen inneren Kampf miterleben zu müssen, und noch am selben Abend informierte ich mich über Alphabetisierungskurse in meiner näheren Umgebung. Ich schickte ein paar Anfragen los, und etwa einen Monat später erhielt ich Antwort vom St. Stephen’s Centre, dem Gemeindezentrum meines Bezirks. Dort hatte gerade einer der Ehrenamtlichen aufgehört.

Obwohl meine Schüler zunächst ein wenig verhalten auf eine Lehrerin reagierten, die jünger war als sie selbst, bekam ich mit der Zeit doch das Gefühl, dass wir Fortschritte machten.

»Hannah, Ihr Kopf verdeckt das Wort zwischen ›waschen‹ und ›kalt‹«, bemerkte Duncan schelmisch.

»Ist das eine höfliche Art, mir zu sagen, dass ich einen dicken Kopf habe?«, fragte ich und trat zur Seite, damit alle die Folie sehen konnten.

Er grinste. »Nee, ist schon ganz hübsch, Ihr Kopf.«

»Danke. Den habe ich mir ganz alleine wachsen lassen«, gab ich scherzhaft zurück.

Duncan stöhnte über den lahmen Witz, aber seine Augen funkelten belustigt, während Portia hinter ihm kicherte.

Schmunzelnd betrachtete ich die tief über ihre Hefte gebeugten Köpfe meiner Schüler. Die Bleistifte bewegten sich mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit: Einige gruben mit quälender Langsamkeit Druckbuchstaben ins Papier, andere glitten halbwegs flüssig über die Linien. Aber bei Lorraine verging mir das Schmunzeln. Sie sah sich immer wieder nach den anderen um. Es schien sie regelrecht in Panik zu versetzen, dass die anderen so sehr in ihre Arbeit versunken waren.

Als sie merkte, wie ich sie beobachtete, machte sie ein finsteres Gesicht, ehe sie sich wieder ihrem Schreibblock widmete.

Ich hatte das ungute Gefühl, dass ich langsam den Draht zu ihr verlor.

Sobald ich das Ende der Stunde verkündet hatte, ging ich zu ihr, ehe sie entwischen konnte. »Können Sie noch kurz dableiben?«

Sie kniff die Augen zusammen und leckte sich nervös über die Lippen. »Hm. Wieso denn?«

»Bitte.«

Sie gab keine Antwort, blieb aber sitzen. Immerhin etwas.

»Danke für die Stunde heute Abend, Hannah!«, rief Portia mir zu. Ihre Stimme schallte so weit, dass man sie vermutlich noch am Empfang hören konnte. Im Unterricht sprach ich immer ein bisschen lauter als gewöhnlich, weil ich den Verdacht hatte, dass Portia schlecht hörte, es aber nicht zugeben wollte. Sie war eine glamouröse Frau, die entweder von unglaublich guten Genen oder einer unglaublich guten Anti-Aging-Creme profitierte. In jedem Fall konnte man sehen, dass sie großen Wert auf ihr Äußeres legte. Einzugestehen, dass sie nicht lesen und schreiben konnte, war eine Sache – aber ihre Schwerhörigkeit zuzugeben hätte bedeutet, ihr wahres Alter zu verraten, und sie wollte bestimmt nicht, dass irgendjemand sie für älter hielt, als sie sich fühlte.

»Gern geschehen!«, rief ich freundlich zurück. Ich lächelte und winkte zum Abschied, als auch die anderen sich bei mir bedankten und gingen.

Dann wandte ich mich wieder Lorraine zu. Es überraschte mich nicht, dass sie die Arme vor der Brust verschränkte und fauchte: »Hat doch sowieso keinen Sinn, wenn ich bleibe. Ich bin durch mit dem Scheiß hier.«

»Ich hatte schon geahnt, dass Sie so was sagen würden.«

Sie verdrehte die Augen. »Und wenn? Ist mir auch egal.« Mit diesen Worten strebte sie in Richtung Tür.

»Wenn Sie den Kurs jetzt hinschmeißen, stehen Sie wieder bei null. Dann sind Sie auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbar.«

»Putzen gehen kann ich auch so.«

»Wollen Sie das denn?«

Lorraine fuhr herum. Ihre Augen spuckten Feuer. »Warum denn nicht? Ist das etwa nicht gut genug für Sie? Klar, Sie wären sich garantiert zu fein, um putzen zu gehen. Man braucht Sie ja bloß anzuschauen – was haben Sie schon für eine Ahnung, wie das ist, sich jeden Tag abzurackern? Nie Kohle zu haben? Und Sie sagen mir, dass ich was lernen soll? Das ist doch Verarsche.«

Nach außen hin ruhig, betrachtete ich Lorraines dunkle, dünne, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare, ihr billiges Make-up, die zerknitterten Discounter-Kleider und ihre dünne Regenjacke. Schließlich fiel mein Blick auf ihre abgewetzten, ausgetretenen Stiefel, in denen sie schon so manchen harten Tag hinter sich gebracht haben musste.

Lorraine war nur zwei Jahre älter als ich, aber in ihren Augen lag eine Härte, die sie viel...

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