Angst verstehen und verwandeln
von: Wolfgang Kleespies
Ernst Reinhardt Verlag, 2003
ISBN: 9783497016822
Sprache: Deutsch
201 Seiten, Download: 851 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
1.2 Gefühle und körperliche Reaktionen (S.21)
1.2.1 Evolutionäre Bedeutung
Gefühle sind aufs engste mit körperlichen Vorgängen verbunden. Die Umgangssprache kennzeichnet diese Zustände sehr treffend, wenn jemand sagt: „Er ist ganz krank vor Eifersucht", oder wenn es heißt: „Er wird verzehrt von Liebe". In beiden Aussagen ist bereits ein Verweis auf begleitende körperliche Zustände enthalten. So kann ich „ein flaues Gefühl im Magen" angesichts einer bevor stehenden Prüfung bekommen, was sich sogar bis zum Magengeschwür auswachsen kann. Auch folgende Aussagen verweisen auf die enge Verbindung von Gefühl und körperlichen Zuständen: „Liebe geht durch den Magen", „Ich kann vor Neid erblassen", oder „Vor Scham bis über beide Ohren erröten", oder „Mir stockt der Atem", oder „Ich springe vor Freude an die Decke", oder „Die Angst sitzt mir im Nacken".
Letztere Angst kann sich manchmal so weit auswirken, dass bei Angstanspannungen sich auch Nackenverspannungen einstellen – ein Hinweis auf die enge leib-seelische Verbindung. Vielleicht besteht im Unbewussten bei diesem psycho-somatischen Bild eine archaische Verzahnung mit Urerlebnissen der Bedrohung, die besonders gefährlich sind, wenn man vom Gegner „von hinten" gepackt wird, sich also in besonders hilfloser Lage befindet. Neben diesen Verzahnungen findet sich auch eine enge Verbindung zu physiologischen Vorgängen. Emotionen treiben auch vegetative und motorische Zentren an mit dem Ziel, Handlungsbereitschaften für spezifische Aktivitäten wie Flucht, Angriff, Sexualität etc. zu schaffen.
Die Verknüpfung von Emotionen und körperlichen Reaktionen ist weitgehend angeboren und universal vertreten, das heißt allen Menschen gemeinsam. Zu den körperlichen Reaktionen gehört auch das Ausdrucksverhalten wie Mimik und Gestik. Hierüber teilen wir unsere emotionale Verfassung unserer Umwelt mit. Auf diese Weise haben Affekte und Emotionen auch über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg kommunikativen und gestaltenden Charakter und werden überall „verstanden".
Allen Säugetieren gemeinsam ist nach den Untersuchungen von Panksepp (1998, zit. bei Roth 2001) eine Grundausrüstung mit „elementaren Affektzuständen". Es handelt sich um Erlebniszustände, die zusammen mit biologischen Grundbedürfnissen und ihrer Befriedigung, bzw. ihrem Entzug, auftreten. Hierzu zählen Hunger und Durst, Wärmehaushalt (Frieren, Schwitzen), Sexualtrieb, Aggression und Wut, Verletzungen (Schmerz) und Sozialverhalten wie Fürsorge, Geborgenheit und Verlassenheitsgefühl.
Gehen wir in unserem Stammbaum zurück, dann finden wir also bei Affekten und Emotionen, wie auch immer wir sie einteilen, prinzipielle Gemeinsamkeiten mit allen Säugetieren. Emotionen können objektiv gemessen werden an ihren körperlichen Begleitreaktionen, wie Pulsfrequenz und Blutdruck und anderen vegetativen Reaktionen, sowie charakteristischen hormonellen Veränderungen. Dadurch können sie auch bei Tieren im Versuchslabor identifiziert werden, die sich ja nicht sprachlich äußern können.
Augenscheinlich zeigt sich bei Schimpansen und Menschen eine Übereinstimmung, etwa in der Ausdrucksform von Furcht und Wut. Auch Zufriedenheit und Wohlbehagen bei Katzen und Hunden wirkt „menschlich". Die Bedeutung von Gefühlen und Affekten muss also sehr hoch sein, sonst hätten sich diese Erlebenszustände in der Entwicklungsgeschichte nicht herausgebildet und so lange – nämlich bis hin zum Menschen – gehalten. Auch die zu Grunde liegenden Hirnsysteme haben sich in der Evolution weitgehend erhalten und zeigen bei allen Arten eine ähnliche Organisation. Dies lenkt uns hin zu der Frage der biologischen Bedeutung der Emotionen.
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