Babys brauchen Väter - Das ABC der Vater-Kind-Bindung

Babys brauchen Väter - Das ABC der Vater-Kind-Bindung

von: Richard Fletcher

Hogrefe AG, 2013

ISBN: 9783456953014

Sprache: Deutsch

172 Seiten, Download: 805 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Babys brauchen Väter - Das ABC der Vater-Kind-Bindung



Es schien, als hätte sich ein bestimmter Teil des Gehirns, der für die Beziehungen zu Artgenossen zuständig war, bei diesen Mutter-deprivierten Affen nicht entwickelt.

Diese Vorstellung passte zu den Erkenntnissen über Menschenbabys. Kinder, die in Keller eingesperrt worden waren oder die man kurz nach der Geburt von menschlichen Kontakten abgeschnitten hatte, versuchte man durch besondere Zuwendung und Behandlung wieder in eine normale Verfassung zu bringen. In diesen schweren Fällen von Vernachlässigung fehlten den Kindern häufig nicht nur bestimmte Grundfähigkeiten, wie etwa die Fähigkeit zu schreiben, sondern jegliches Sprachvermögen; auch zwischenmenschliche Beziehungen waren ihnen größtenteils fremd. Die gut gemeinten Bemühungen, ihnen eine normale Kindheit zurückzugeben, waren zum Scheitern verurteilt. Es war klar, dass diesen Kindern etwas Grundlegendes fehlte, aber man konnte mit menschlichen Säuglingen nicht die gleichen Experimente machen wie mit Rhesusaffen. Dem Forscher Harry Harlow, der die Filme über die Babyaffen vorstellte, ist es zu verdanken, dass durch diese drastischen Experimente das Animal Liberation Movement entstand. Die Wissenschaftler brauchten eine Methode, um ins Gehirn zu schauen und zu erforschen, wie die Auswirkungen liebevollen Elternverhaltens den Aufbau des Gehirns veränderten.

Stimulation, aber zum richtigen Zeitpunkt

David Hubel, geboren 1926, würde definitiv als «traditioneller» Vater durchgehen. Seine Kinder wurden in sein Berufsleben eingepasst. Oft führte er bis spät in die Nacht Experimente im Labor durch und kam mitunter erst nach Hause, wenn seine Familie sich zum Frühstück zusammensetzte. Für seine drei Kinder war er zweifellos wichtig als Vater, aber seine umfassendere Bedeutung liegt in seinen Entdeckungen, die ihm (zusammen mit seinem Kollegen Torsten Wiesel) im Jahr 1981 den Nobelpreis für Physiologie einbrachten. Seine bahnbrechende Arbeit bestand darin, zu kartieren, wie die Signale des Auges ihren Weg durch die verschiedenen Schichten des Gehirns finden.9 Er entdeckte, dass die Hirnzellen, die wir nutzen, um Botschaften des Auges zu deuten, sich in einer bestimmten Phase direkt nach der Geburt entwickeln. Wenn das Auge während dieses kritischen Zeitfensters blind ist, sodass kein Licht auf die Retina (im hinteren Teil des Auges) fällt, lässt sich das Sehvermögen nicht allein dadurch herstellen, dass wieder Licht ins Auge gelangt. Die Hirnzellen, die wir zum Sehen benutzen, müssen kurz nach der Geburt stimuliert werden oder sie entwickeln sich nicht zu Zellen, die die Botschaften des Auges entschlüsseln können. Wenn der richtige Stimulus nicht zum richtigen Zeitpunkt einsetzt, entwickelt sich dieser Teil des Gehirns unter Umständen überhaupt nicht.

Hubel und Wiesel arbeiteten überwiegend mit Katzen; das gab ihnen die Möglichkeit, das Auge einer Babykatze kurz nach der Geburt, also bevor es sich normalerweise öffnet, chirurgisch zu verschließen (die Operation wurde unter Narkose durchgeführt und die Kätzchen zeigten beim Aufwachen, zurück bei der Mutter, keinerlei Anzeichen von Stress). Wenn das Auge nach einigen Monaten chirurgisch wieder geöffnet wurde, blieben die Kätzchen auf diesem Auge blind. Als dasselbe Experiment (ein Auge für einen bestimmten Zeitraum zu verschließen und es später wieder zu öffnen) bei ausgewachsenen Katzen wiederholt wurde, entstand kein Schaden. Das Kätzchen-Experiment erklärt, warum keine noch so intensive Behandlung das Sehvermögen wiederherstellt, wenn Babys mit milchigen Katarakten über der Augenlinse geboren werden (was ein wenig Licht, aber keinen Schatten ins Auge fallen lässt) – wird diese defekte Linse chirurgisch entfernt, sobald das Kind sechs oder sieben Jahre alt ist, kann es trotzdem nichts sehen, auch wenn die neue Linse voll funktionsfähig ist.

1.4.1 Auch für soziale Kontakte gibt es ein kritisches Zeitfenster

Das Interesse wandte sich dann der Frage zu, ob es für die sozialen Aspekte der kindlichen Entwicklung ebenfalls kritische Entwicklungsphasen gab. Wenn nun irgendein Teil des Gehirns den Input liebevoller Zuwendung brauchte, um sich angemessen zu entwickeln? Das würde erklären, warum die Säuglinge in den Findlingsheimen der 1950er-Jahre verkümmerten und starben, auch wenn sie eine hervorragende medizinische Versorgung erhielten. Es würde auch erklären, warum Kinder in Fällen schwerer Vernachlässigung, auch wenn sie gerettet und liebevoll betreut wurden, nicht fähig waren, sich vollständig von den Folgen der Deprivation in der frühen Kindheit zu erholen. In dem Jahrzehnt nach Hubels Experimenten mit den Katzen wurden neue Techniken entwickelt: Mittels anspruchsvoller Computerprogramme konnte man mit diesen Techniken analysieren, wie sich der Sauerstofffluss und magnetische Felder im Gehirn veränderten. Das bedeutete, dass Wissenschaftler die Funktionsweise des Gehirns sehr detailliert erforschen konnten, ohne die untersuchte Person zu schädigen.10 Diese neuen Techniken kamen zum Einsatz, als unter der Herrschaft Ceaus ¸escus in Rumänien zahllose Kinder lange Phasen der Deprivation erlitten hatten.

Tausende rumänische Kinder waren in Waisenhäuser gesteckt worden, wo sie unter schrecklichen Bedingungen «betreut» wurden. Etwa 35 Prozent der Kinder starben jedes Jahr. Die Mangelernährung, unter der diese Kinder litten, ließ ihr Wachstum stocken; die soziale und emotionale Betreuung war ebenfalls völlig ungenügend. In den Waisenhäusern war eine Betreuungsperson häufig für bis zu 60 Kinder zuständig, sodass die Kinder in vielen Fällen den ganzen Tag in ihren Bettchen eingesperrt blieben.

Nach dem Sturz des Regimes im Jahr 1989 setzte eine internationale Anstrengung ein, die Kinder in liebevollen Familien unterzubringen. Ermutigend war, dass viele dieser Kinder sich in körperlicher Hinsicht sehr gut erholten: Bei angemessener Zuwendung und Ernährung erreichten sie Wachstumsraten, die fünfmal so hoch waren wie bei normalen Kindern, sodass sie in punkto Körpergröße und Gewicht nach einigen Jahren fast gleichauf mit Gleichaltrigen waren. Das ernüchternde Ergebnis war, dass auch nach jahrelanger angemessener Betreuung durch liebevolle Adoptivfamilien viele Schädigungen bestehen blieben: Die Kinder hatten niedrigere IQWerte, konnten ihre Impulse nicht beherrschen und hatten Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen.

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