Psychologie Heute compact 57 - Still und stark

Als Teenager betäubte Kai sich mit Alkohol. „Der Alkohol machte es mir überhaupt erst möglich, auszugehen, mit anderen Spaß zu haben und mich so zu fühlen, als gehöre ich irgendwo dazu“, erzählt er heute, mit Ende 30.

Kai ist hochsensibel, und schon in seiner Kindheit und Jugend merkte er, dass er andere Menschen zwar mochte – aber dass ihn ihre Gesellschaft auch anstrengte. Gerne war er mit sich allein, las und verarbeitete die vielen Eindrücke, die er in seiner Zeit da draußen in der Welt gesammelt hatte.

Kai ist einer von vielen Männern, die in Tom Falkensteins Buch Hochsensible Männer zu Wort kommen. Tom Falkenstein ist Psychologischer Psychotherapeut mit eigener Praxis in Berlin und beschäftigt sich seit 2013 intensiv mit dem Konzept der Hochsensibilität (siehe auch unser Interview mit ihm ab Seite 60). Ich habe Tom Falkenstein gefragt, ob es eine doppelte Belastung ist, hochsensibel zu sein – und ein Mann. „Wir wissen aus der Forschung, dass es nicht mehr hochsensible Frauen als Männer gibt“, sagt Tom Falkenstein. „Und die Herausforderung, wenn man besonders empfindsam auf die Reize seiner Umwelt reagiert, ist für beide Geschlechter sicherlich erst mal gleich groß. Aber ich glaube tatsächlich, dass bei Männern noch dazukommt, dass es eben nicht mit dem dominanten Männerbild vereinbar ist, besonders sensitiv zu sein.“ Tom Falkenstein beobachtet eine bemerkenswerte Diskrepanz: Im gesellschaftlichen Diskurs mag sich unser Blick auf Maskulinität verändern. In den Köpfen und Herzen vieler Männer, die sich ihm im geschützten Therapieraum öffnen, finden sich alte Ideale und die Scham, diesen nicht zu genügen.

In Psychologie Heute berichten wir schon sehr lange über stille Menschen, über Introvertierte, über Schüchterne, über Hochsensible. Wir haben die „Vorreiterin“ der Hochsensibilität, Elaine Aron, bereits im Jahr 2000 interviewt, wir haben Titelgeschichten über stille Menschen veröffentlicht und gefragt, wie man als schüchterner Arbeitnehmer im Berufsleben gut zurechtkommt. Und wir haben davon erzählt, welche Fähigkeiten diese Frauen und Männer auszeichnen: Sie nehmen fein wahr, sie schwingen mit ihren Mitmenschen mit, sie denken tief.

Nun haben wir ein ganzes Heft über stille und starke Menschen für Sie zusammengestellt. Und können damit vielleicht ein wenig dazu beitragen, eine Kluft zu schließen: Denn wenn auch so langsam die Einsicht wächst, dass stille Menschen besondere Fähigkeiten haben und die Gesellschaft bereichern, so fühlt sich doch so manche introvertierte Frau oder so manch hochsensibler Mann noch immer defizitär. Hier zu informieren, zu erzählen und zu ermutigen möge eine Aufgabe dieser Psychologie Heute compact- Ausgabe sein. Eine anregende Lektüre wünscht