Die Elenden

Die Elenden

von: Anna Mayr

Hanser Berlin, 2020

ISBN: 9783446268784

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 1221 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Elenden



Nehmen wir einmal an …


… Sie sind ein Mensch ohne nennenswertes Vermögen. Sie haben also nicht genug Geld, um davon leben zu können, dass es sich von selbst immer weiter vermehrt. Sie besitzen auch keine Güter, die Sie im allerschlimmsten Fall verkaufen könnten. Sie haben irgendeinen Beruf gelernt, und nun verdienen Sie Geld mit diesem Beruf, es ist nicht viel, der Median des Nettoeinkommens lag 2010 in Deutschland bei knapp 1300 Euro — aber Sie fahren einmal im Jahr in den Urlaub. Sie besitzen vielleicht ein Haustier, das Sie gernhaben. Dann werden Sie krank, liegen ewig im Krankenhaus. Ihr Chef bittet Sie, zu kündigen, Sie haben sich immer gut mit ihm verstanden, er verspricht Ihnen, Sie könnten zurückkommen, wenn es Ihnen besser geht. Oder Ihre Eltern werden krank und Sie kümmern sich. Oder Sie bekommen versehentlich ein Kind, das Sie sehr gernhaben und deshalb nicht acht Stunden am Tag alleine herumliegen lassen können. Oder Sie verlieben sich in jemanden, und er verarscht Sie, und am Ende besitzt er Ihr Auto und Sie nur den Fötus, den er Ihnen eingepflanzt hat. Oder Ihre Frau verlässt Sie, und Sie werden depressiv, und die Frau nimmt die Freunde mit und die Kinder, und da ist niemand, der käme, um Sie zu umarmen. Oder eine globale Pandemie grassiert und Ihre Firma muss ein paar Leute rauswerfen, um das Geld einzusparen, das durch den Stillstand verloren geht. Abends trinken Sie. Aber da es keinen Unterschied zwischen Tag und Abend gibt, wenn man gelangweilt ist und allein, trinken Sie bald manchmal auch nachmittags. Zehn Prozent aller Hartz-IV-Empfänger, das hat eine Studie mit Versicherten der AOK ergeben, sind suchtkrank — und das sind nur die, bei denen die Krankenkasse darüber Bescheid weiß.

Am Anfang geht es Ihnen mit der Arbeitslosigkeit noch recht gut. Sie bekommen vielleicht Arbeitslosengeld I, also für ein Jahr 60 Prozent Ihres Nettogehalts. 67 Prozent, falls Sie Kinder haben. Maximal aber 2000 Euro in Westdeutschland, in Ostdeutschland nur knapp 1900. Sie machen sich auf die Suche nach einem neuen Job und trinken abends mit Freunden in den Bars, in denen Sie immer schon getrunken haben. Sie erzählen den Freunden, wie deprimierend die Jobsuche ist, und wenn die Freunde von der Arbeit reden, dann erzählen Sie eben Geschichten von früher. 

Einen neuen Job finden Sie nicht. Am Anfang, weil Sie noch wählerisch sind. Am Ende dann, weil die Leute, die die Jobs vergeben, sich fragen, wieso Sie so lange keinen neuen Job gefunden haben. Oder weil es gerade einfach keine Jobs gibt, das kommt vor. Vielleicht können Sie auch nicht aus Ihrer Stadt weg, weil Sie dort ein Kind haben oder ein Tier oder eine Oma, die Sie pflegen. Das Arbeitsamt hält Beschäftigungen für zumutbar, wenn die täglichen Pendelzeiten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz unter zweieinhalb Stunden liegen. Vielleicht gibt es den Beruf auch gar nicht mehr, den Sie gelernt haben. Ohnehin müssen Sie sich langsam von dem Gedanken verabschieden, dass Sie einem Berufsstand angehören. Vom siebten Monat der Arbeitslosigkeit an ist Ihnen jede, wirklich jede Beschäftigung »zumutbar«, deren Lohn höher ist als das Arbeitslosengeld.

Sie haben zufällig keine Partnerin, die genug Geld besitzt, um Sie mitzuversorgen. Falls Sie doch eine hatten, dann vielleicht jetzt nicht mehr, weil sie Ihre Lethargie nicht mehr ertragen konnte. Arbeitslosigkeit führt zu einem höheren Trennungsrisiko, vor allem wenn es der Mann ist, der arbeitslos wird.1 Am Abend der Trennung kommen Freunde zu Ihnen nach Hause. Die Freunde sagen, dass alles wieder gut wird. Sie nicken. Mal schauen, wie lange die Freunde noch kommen. Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, fühlen sich häufiger sozial isoliert und unglücklich.2

Nach etwa anderthalb Jahren müssen Sie aus Ihrer Wohnung ausziehen. Zu groß für Hartz IV. Die angemessene Brutto-Kaltmiete für eine Person beträgt 364,50 Euro, die angemessene Quadratmeterzahl ist 50. Vielleicht haben Sie noch eine Familie, dann gibt es für vier Personen 85 Quadratmeter, Kaltmiete 587 Euro. Sie ziehen also um.

Ach, und Ihr Sparkonto — davon haben Sie hoffentlich bereits Anschaffungen gemacht, denn mehr als 150 Euro pro Lebensjahr dürfen Sie nicht besitzen, und mehr als 10.000 Euro sowieso nicht; nehmen wir mal an, Sie sind 35 Jahre alt — dann dürfen Sie 5250 Euro auf dem Konto liegen lassen. Aber Sie werden es eh bald aufbrauchen.

Nach etwa zwei Jahren werden Sie nicht mehr eingeladen, wenn Ihre Freunde sich treffen. Ihr Leid ist zu bedrückend für alle, die sich über den Stress am Fließband oder im Büro beschweren wollen. Sie werden auch langsam komisch, verschlossen, ein wenig verschroben — weil Sie ja im Alltag kaum noch mit jemandem reden. In Ihrem Regelsatz sind übrigens exakt 10,76 Euro für »Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen« vorgesehen. 37,84 Euro für Bekleidung und Schuhe.

Nach etwa drei Jahren Arbeitslosigkeit sieht man Ihnen deutlich an, wo Sie wohnen, wie Sie wohnen und dass Ihnen nichts mehr einfällt.

Ihr Tier wird krank. Es ächzt, es röchelt, Sie setzen es in eine Box, bringen es zum Tierarzt und bitten ihn, dem Tier zu helfen. Der Tierarzt sieht Ihre Kleidung, er sieht die klapprige Box, und er könnte vielleicht helfen, aber er will Sie nicht vor die Wahl stellen, ob Sie diesen Monat essen oder ob das Tier leben soll, deshalb sagt er, dass er nichts tun kann. Sie sind jetzt noch ein bisschen einsamer, als Sie es vorher waren.  

Nach etwa sieben Jahren ist jedes Gerät, das ein menschenwürdiges Leben in diesem Land ausmacht, einmal kaputtgegangen: die Waschmaschine zuerst. Sie haben sich eine neue kaufen müssen, jetzt haben Sie Schulden. Vielleicht hat Ihnen jemand mit ein wenig Geld ausgeholfen? Wenn Sie noch Freunde haben. Dann die Spülmaschine, auch so eine Sache, man kann ohne leben, es kostet nur Zeit. Früher, als das ALG II noch »Sozialhilfe« hieß, erstattete der Staat die Kosten für warme Kleidung im Winter und für andere große, notwendige Anschaffungen. Das wurde 2004 mit den Gesetzen für »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« abgeschafft.

Die Kinder, die Sie vielleicht haben, bekommen immer häufiger Kopfschmerzen. Kann am Wetter liegen, sagt der Arzt, oder psychisch bedingt sein. Kinder mit niedrigem sozioökonomischen Status leiden in Europa doppelt so häufig an psychischen Störungen wie andere Kinder.3 Wenn sie nachmittags aus der Schule kommen, geben Sie ihnen etwas zu essen, und dann ist den Kindern langweilig. Aber Sie können ihnen keine Fußballschuhe kaufen und keine Ballettkleidchen, also schalten Sie den Fernseher ein, damit sie endlich Ruhe geben, denn Sie müssen verdammt noch mal das Geschirr spülen. Heute sind Sie noch nicht dazu gekommen — Ihr Wasserkocher ist kaputtgegangen und Sie haben den Vormittag in Geschäften verbracht und Preise verglichen. Von 15 Euro kann man einen Wasserkocher und ein Paar Schuhe kaufen. Man braucht nur viel Zeit dafür. Die Krankenkasse zahlt Ihren Kindern die Medikamente gegen ADHS und Ihnen die Medikamente gegen die Depressionen. Vier von zehn Hartz-IV-Empfängern, das ergab ebenfalls eine Studie der AOK4, sind psychisch krank. Bei Langzeitarbeitslosen, so geht es aus Zahlen der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hervor, sind es 70 Prozent.

Die Kinder bekommen nachmittags in der Schule von einer Studentin Nachhilfeunterricht. In ihrer WG sagt sie zu ihren Mitbewohnerinnen: »Wie schade, dass die Eltern ihre Kinder so vernachlässigen. Die arbeiten doch gar nicht, die hätten doch Zeit.« Sie schicken die Kinder auf den Spielplatz in der Nachbarschaft. Aber die Kinder sind müde vom Ritalin, und als sie zurück nach Hause kommen, hat eins eine Schramme im Gesicht — weil ein anderes Kind zugeschlagen hat, dem genauso langweilig war. Im Fernsehen läuft die Bundestagswahl, Sie schalten um, damit die Kinder still sind. Während die Kinder fernsehen, suchen Sie Formulare zusammen und Unterlagen, um weiter Geld zu bekommen: Ihre eigenen Kontoauszüge, die Kontoauszüge der Kinder. Bewerbungen, von denen Sie schon vorher wussten, dass sie zwecklos sein würden. Schulbescheinigungen. Noch gehen die Kinder zur Schule.

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