Basale Stimulation in der Pflege - Das Arbeitsbuch

Basale Stimulation in der Pflege - Das Arbeitsbuch

von: Andreas Fröhlich

Hogrefe AG, 2016

ISBN: 9783456957036

Sprache: Deutsch

84 Seiten, Download: 5458 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Basale Stimulation in der Pflege - Das Arbeitsbuch



Basal stimulierende Pflege (S. 17-18)

Bitte nutzen Sie den Platz neben dem Text für eigene ergänzende, kritische oder zustimmende Gedanken. Notieren Sie auch eigene Erfahrungen, die mit dem Text im Zusammenhang stehen. Lesen Sie aktiv, mit dem Stift in der Hand!

Verluste

Menschen werden langsam oder auch plötzlich zu Patienten. Sie erleiden, wie der lateinische Begriff „patiens“ dies ausdrückt, etwas: Schmerz, Funktionsstörungen, Übelkeit, Verwirrung und auch Angst. Sie erleiden aber auch Behandlung, Eingriffe, Manipulationen und viele andere Maßnahmen am eigenen Körper. Der Patient wird vom selbstbestimmten Subjekt zu einem mehr oder weniger fremdbestimmten Objekt von Diagnostik, Therapie und Pflege. Ein radikaler Rollenwechsel findet statt: Man ist nicht mehr Freundin, Ehemann oder Partnerin, sondern nur noch Patient.

Wir können davon ausgehen, dass das Ereignis oder der Prozess, der einen Menschen zum Patient werden lässt, als traumatisierender Schock, als aggressiver Angriff auf die eigene Person oder auch als schleichender Abbauprozess erlebt wird. Bei dem hier zu diskutierenden Personenkreis ist das Resultat eine schwere und nicht nur kurzfristige Einschränkung in allen wichtigen, vitalen Funktionen. Die Patienten, von denen hier gesprochen wird, sind Patienten auf neurochirurgischen oder allgemeinen Intensivstationen, Frühgeborene und Babys, die eine intensivmedizinische Betreuung benötigen, aber auch schwer altersverwirrte Menschen oder gar Sterbende.

Die unmittelbare Nähe zur ursprünglichen Adressatengruppe des Konzepts der Basalen Stimulation findet sich im Bereich der rehabilitativen Einrichtungen wieder, in denen schwerst mehrfachbehinderte Menschen betreut werden.

All diese Menschen haben ein höchst individuelles Schicksal erlitten. Dennoch kann von gewissen Gemeinsamkeiten ausgegangen werden: Durch Schock, Trauma, Eingriff oder Abbauprozesse und Funktionsverluste verändert sich die Identität des eigenen Körpers in oft radikaler Weise, beispielsweise bei einem Unfall oder durch einen massiven operativen Eingriff. Schmerzen lassen Menschen den eigenen Körper als feindlich erleben, Verwirrung bewirkt Fremdheit im eigenen Körper. Wenn wir davon ausgehen, dass das Körper-Ich das primäre Selbst eines Menschen darstellt, so wird unschwer deutlich, dass es sich bei den geschilderten Prozessen um existenzielle Bedrohungen der Identität handelt. Wenn man nicht mehr in seinem eigenen Körper zuhause sein kann, wenn er fremd wird, nicht mehr das tut, was er sollte, sich anders anfühlt, zur Bedrohung wird, führt dies zu einer Abspaltung: Es kommt zum Verlust der persönlichen Integrität. Menschen fühlen sich gespalten, sie fühlen sich nicht mehr als die Person, die sie einmal waren. Selbstzweifel, ja Gefühle von Minderwertigkeit, schleichen sich ein.

Medizinische wie pflegerische Handlungen der traditionellen Art tragen meist wenig Sorge dafür, dass die leibseelische Ganzheit durch ihre Maßnahmen zusammengehalten wird. Sie widmen sich insbesondere den gestörten bzw. den geschädigten Bereichen des Körpers. Gesundung, so unsere Überzeugung, ist aber ein aktiver Prozess des kranken Menschen, der sich wieder neu organisieren muss. Durch eine basal stimulierende Pflege versuchen wir, diesen Prozess zu unterstützen.

Der kranke Mensch, jetzt Patient, wird in eine neue Umwelt gebracht. Das Krankenhaus stellt einen Arbeitsbereich für Fachleute dar. Es ist in seiner Gesamteinrichtung vorrangig nach ihren Bedürfnissen konzipiert. Zunehmend bestimmen wirtschaftliche Überlegungen und Zwänge dieses Arbeitsfeld. Betrachtet man sich diese Einrichtung als Lebenswelt für den Patienten, so kommen wir nicht umhin, diese Umwelt einerseits als reizarm und andererseits als verwirrend und überstimulierend einzuschätzen: Für die Patienten dominiert der Eindruck eines Chaos’ oder zumindest einer Unordnung. Die notwendigen medizin- technischen Maßnahmen, besonders auf Intensivstationen, führen zu einer erheblichen Einschränkung normaler, sensorischer Wahrnehmung. Der Raum, die Lage im Raum, die visuellen (das Sehen betreffend) und auditiven (das Hören betreffend) Eindrücke, die Einschränkung der eigenen Bewegungsfähigkeit bedeuten eine drastische Verminderung der sensorischen Angebote, mit denen wir normalerweise leben.

Insbesondere die Einschränkung der körperlichen Bewegungsfähigkeit bewirkt sehr schnell eine dramatische Veränderung der Selbstwahrnehmung. Langes Liegen, insbesondere auf Weichlagerungsmatratzen, führt zu einem unmittelbaren Verlust von Körpergefühl. Die eigenen Konturen werden nicht mehr gespürt, der eigene Körper verliert sich und wird unbestimmt. Hinzu kommen die Verluste an auditiven und visuellen Orientierungsmöglichkeiten: Bleibt der Blick an die Decke gerichtet, gibt es nur noch ein milchiges Weiß, in das gelegentlich schnelle Schatten treten. Für das Gehör bleibt ein Gewirr nicht entschlüsselbarer Laute und Geräusche, die sich nicht in einen Zusammenhang mit der eigenen Person bringen lassen. Die Folge davon, so haben Erfahrungen immer wieder gezeigt, ist ein „Verdämmern“, um sich der Fülle der unverständlichen Reize gerade im Hörbereich zu entziehen. Notwendige sedierende Maßnahmen tun ein Weiteres, um den Menschen von seiner Umgebung zu trennen.

Diese Reizdeprivation (Entzug sensorischer Reize) führt zu einer Verstärkung der oben geschilderten Prozesse bezüglich des eigenen Körpers und infolgedessen der eigenen Person. Aus der Entwicklungs- und Wahrnehmungspsychologie wissen wir, dass sich solche Deprivationen folgenschwer auf die Gesamtpersönlichkeit auswirken. Im Speziellen deaktivieren sie neuronale Netzwerke und wirken somit der Selbstorganisation und Selbststabilisierung des Menschen entgegen.

XXDurch basal stimulierende Pflege versuchen wir, den kranken Menschen sensorische Angebote zu machen, die ihrer jeweiligen Befindlichkeit entsprechen. Dadurch ergeben sich neue und angemessene Orientierungsmöglichkeiten. Patienten können sich entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation ein wenig öffnen und Bezüge zur sie umgebenden Wirklichkeit herstellen.

Die Einweisung auf eine Intensivstation bedeutet immer auch drastische Kommunikationsverluste. Der Patient wird aus seiner bisherigen Lebenswelt herausgerissen, Kontakte müssen abgebrochen werden. Nur wenige, dazu meist selbst sehr verstörte Angehörige oder Freunde bekommen noch Zutritt zum Patienten. Die gesamte Alltagskommunikation ist verändert oder verloren. Ärzte, Therapeuten und Pflegende stellen...

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