Beifang - Roman

Beifang - Roman

von: Martin Simons

Aufbau Verlag, 2022

ISBN: 9783841230133

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 374 KB

 
Format:  EPUB

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Beifang - Roman



1.

Inzwischen ging es mir schon gar nicht mehr um den Sex. Marie traf ich vor allem, damit ich schweigend mit ihr zusammenlag, versunken im Hier und Jetzt, mein Kopf nahe an ihrem Kopf, in der Strahlung eines fremden, für mich unzugänglichen Bewusstseins. In diese verwunschene Stille hinein schrillte jäh das Telefon.

»Viel zu tun?«

Wie gewöhnlich sprach mein Vater, ohne sich vorzustellen. Wie hätte er sich auch nennen sollen, Vater, Papa, Otto?

»War einiges los.«

»Wann kommst du vorbei?«

»In den Herbstferien, mit Vincent.«

»Du kannst ja auch vorher kommen.«

»Ja – aber warum?«

Ich sollte kommen, stellte sich heraus, um zu entscheiden, was von meinen seit Jahrzehnten auf ihrem Dachboden lagernden Dingen ich in meine Wohnung nehmen wollte, damit sie nicht auf dem Sperrmüll landeten. Meine Eltern hatten ihr Haus verkauft.

Als ich auflegte, bemerkte ich, dass Marie mich ansah.

»Alles in Ordnung?«

Ich machte eine unbestimmte Geste und stellte mich ans Fenster, aus dem der Blick auf eine – der Hinterhof war schmal – vielleicht zehn Meter entfernte, seit einigen Jahren glatt verputzte und hell gestrichene Brandwand ging. Sooft ich zum Fenster hinaussah, war es, als schaute ich in einen ewig wabernden Nebel. Anfangs hatte ich noch versucht, die Aussicht in diese gestaltlose Leere als meditativ zu empfinden und darin ein Geheimnis zu entdecken. Doch leider wurde mir, sooft ich länger aus dem Fenster sah, einfach bloß übel.

Ich legte mich wieder hin. Marie angelte nach dem Päckchen auf dem Nachttisch, und ich betrachtete die zarte Andeutung von Muskulatur unter ihrer glatten Haut. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund, ohne sie anzuzünden. Sie rauchte überhaupt nicht, sie hatte bloß Freude daran, so zu tun, wenn sie bei mir war. Sie probierte dann verschiedene Posen aus, imitierte Gesten aus Filmen oder bekannte Persönlichkeiten. Gerade hielt sie die Zigarette kraftlos zwischen Mittel- und Ringfinger, und ich sagte: Michel Houellebecq, woraufhin ihre Augen, ohne dass sich ihr Gesicht sonst veränderte, kurz aufstrahlten.

Ich verstand nicht gleich, warum mich die Nachricht vom Hausverkauf so traf. Eine frühere Freundin war von dem Verlust des von ihr stets als Schlumpfhausen bezeichneten Elternhauses in eine tatsächlich mittelschwere Krise gestürzt worden. Sie hatte Vater und Mutter den Lebensabend auf einer Kanareninsel mit abwechselnd einem Tennisschläger und einem Glas Wein in der Hand durchaus gönnen wollen, doch war sie einfach nicht über den Verlust der Topographie ihrer Kindheit, die verräterisch knarrende Holztreppe, das kleine Guckloch in der Wand zum Zimmer ihrer großen Schwester, die geheime Süßigkeitenschublade in der Garage, die immer volle Vorratskammer mit dem fermentierten Gartengemüse und überhaupt all die Sedimentablagerungen der Kleinfamilienerinnerung, die nur eine Handvoll Menschen erfassen konnte, hinweggekommen. Ich war von ihrer starken, sich über Wochen hinziehenden Trauer so abgestoßen gewesen, dass ich sie schließlich nicht mehr hatte sehen können. Ich hatte in ihrer Anhänglichkeit an ein Haus das Zeichen für einen kleinlichen Egoismus gesehen, der in letzter Konsequenz für den Erhalt des eigenen bequemen Lebensglücks sozusagen über Leichen zu gehen bereit war.

Das war damals vielleicht etwas überspannt gewesen. Aber im Grunde dachte ich noch immer, dass mit solcher Art Sentimentalität etwas Böses begann. Ich jedenfalls war mit achtzehn voller Euphorie bei meinen Eltern ausgezogen und dann viele Jahre nur selten zu Besuch gewesen. Ich hatte ihr Haus nie auch nur eine Sekunde vermisst. Allerdings war für Vincent das in einer Bergarbeitersiedlung gelegene Zechenhaus der Großeltern mit dem vollgestopften Dachboden, dem unter einer Falltür gelegenen Kohlenkeller und dem an eine wilde Wiese angrenzenden Garten in den vergangenen zwölf Jahren zu seiner zweiten Heimat geworden. Dort hatte er die Erfahrungen machen können, die weder bei seiner Mutter in München noch bei mir in Berlin möglich gewesen waren, hatte er Buden unter Bäumen gebaut, nach Regenwürmern gegraben, Gemüse angepflanzt und beim Ernten und Einkochen von Äpfeln, Birnen und Pflaumen geholfen. Das Großelternhaus war für ihn ein Sehnsuchtsort; nicht zuletzt deswegen, weil wir uns dort, vielleicht nur dort, meistens gut verstanden.

Ich wünschte, Vincent hätte seinem Kindheitsparadies langsam entwachsen können; wobei ich mich durchaus zu meinem Missvergnügen fragen musste, ob diesem Wunsch nicht die gleiche Haltung zugrunde lag, die ich damals meiner um ihr Elternhaus trauernden Freundin vorgeworfen hatte.

Vor der offenen Wohnungstür drückte mir Marie ihre Faust gegen die Brust und winkte im Gehen über die Schulter. Ich war zu abgelenkt, um ihre Unverbindlichkeit als aufgesetzt zu empfinden, und dachte, während ihre Schritte im Hausflur leiser wurden, dass ich die Entscheidung meiner Eltern letztlich nachvollziehen konnte. Mein Vater hatte sich vor zwei Jahren an einer undurchlässigen Halsschlagader operieren lassen müssen, meine Mutter litt schon wer weiß wie lange still an Rheuma. Haus und Garten wurden für beide zur Belastung. Es war im Grunde bewundernswert, dass sie sich frühzeitig dazu durchringen konnten, ihrem bisherigen Leben zu entsagen und in eine von ihrem bisherigen Haus nur zweihundert Meter entfernte, neu errichtete Anlage mit Eigentumswohnungen für Senioren umzuziehen, wo die Betreuung durch professionelle Kräfte ihrem möglichen Pflegebedarf angepasst werden konnte. Meine Schwester und ich würden uns jedenfalls später einmal nicht mit uneinsichtigen Eltern über die Unterbringung in einem Pflegeheim streiten müssen.

*

Die rote Kiste stand oben auf einem Sperrmüllhaufen. Im ersten Moment glaubte ich an ein Versehen und trug sie in die Garage, wo mein Vater Regale abmontierte.

»Willst du sie wegwerfen?«

»Sie stand dreißig Jahre nur im Schrank.«

Meine Eltern hatten verabredet, ausschließlich Dinge in ihre neue Wohnung mitzunehmen, die sie regelmäßig benutzten oder die ihnen wirklich etwas bedeuteten. Ich war irritiert, dass das Einzige, was mein Vater von seinem Vater geerbt hatte, nicht dazugehören sollte. Aber ich zögerte, das anzusprechen. Nicht bloß, weil wir miteinander nicht leicht über Gefühle redeten. Es erschien mir vermessen, ihm einen achtlosen Umgang mit einer schuhkartongroßen leeren Holzkiste vorzuwerfen, für die ich nie Interesse gezeigt hatte. Dabei gehörte der Moment vor beinahe dreißig Jahren, als mein Vater mir sein Erbe gezeigt hatte, zu meinen unvergesslichen Erinnerungen.

Damals, ich war vierzehn oder fünfzehn gewesen, hatte er mich an einem Nachmittag in sein sogenanntes Büro im Schuppen gerufen, das tatsächlich eine Art Aufbewahrungsraum für alles gewesen war, was er für zu kostbar gehalten hatte, um es einfach unserem verschwenderischen Zugriff zu überlassen – Briefmarken, Briefumschläge, Ersatzbatterien. Als ich eintrat, lehnte er steif an seinem vor allem von »Auto, Motor und Sport«-Heften bedeckten Schreibtisch, machte einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf eine verschrammte Holzkiste mit rostigem Scharnier frei, die dafür gemacht schien, Schrauben und Nägel aufzunehmen.

»Die gehörte deinem Opa«, sagte er, klappte den Deckel auf und zu und sah mich, ganz kurz, aus ungeschützten Augen an.

Ich vermute, er hoffte, ich würde ihn etwas fragen. Aber ich war, daran kann ich mich gut erinnern, viel zu verdutzt, weil er das vertrauliche »Opa« für meinen Großvater verwendete. Ich war seinem Vater in den acht Jahren bis zu seinem Tod nur zwei oder drei Mal begegnet, obwohl er die ganze Zeit weniger als einen Kilometer Luftlinie entfernt von uns gewohnt hatte. Wünschte er, ich würde ihn Opa nennen?

Nach einer Weile rang ich mich doch zu einer Frage durch: »War sie schon leer?«

Mein Vater blickte abwechselnd mich und die Kiste an, nickte stumm und strich dabei auf eine Weise über das billige, schlecht gefügte, mit ochsenblutroter Dielenfarbe wie übergossene Holz, die selbst dem Teenager, der ich war, etwas von den Gefühlen vermittelte, die er für seinen Vater gehegt haben musste. Wir verharrten beide noch einen Moment unschlüssig vor seinem Erbe; dann schüttelte mein Vater, fast unmerklich, den Kopf und...

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