Abenteuerland - Von der Zugspitze nach Sylt

Abenteuerland - Von der Zugspitze nach Sylt

von: Christo Foerster

HarperCollins, 2022

ISBN: 9783365000298

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 7012 KB

 
Format:  EPUB

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Abenteuerland - Von der Zugspitze nach Sylt



01

CALL IM KABUFF

Festgesetzt und ausgelutscht

Maaama, wie lange schläft Papa noch?« Bis eben bildete das Gemurmel jenseits der angelehnten Zimmertür mit dem Klappern von Geschirr und Buntstiften, dem Knarzen der Treppe und dem Surren der Elektrozahnbürsten einen Geräuschteppich, der sich unauffällig unter meine Halbschlafträume legte. Nun hat meine Familie aber offenbar die Entscheidung getroffen, dass es reicht. Mit Inbrunst schreit meine Frau Anja von unten: »Lass ihn mal noch ein bisschen! Ich glaube, der ist gestern wieder spät ins Bett gegangen.« Ja, das ist er. Aber vielleicht will er deshalb auch WIRKLICH noch weiterschlafen! Warum kommt ihr nicht gleich mit dem Megafon rein und brüllt mir ein »Lass dich nicht stören!« ins Ohr? Ich habe noch nicht einmal das Bett verlassen und bin schon so genervt wie nach vier Stunden Videocall mit meiner Steuerberaterin.

Das Fenster in der Dachschräge ist nur einen Spaltbreit geöffnet, aber ich spüre, dass es draußen eiskalt geworden ist. Schon seit Tagen liegen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, heute Nacht sind sie wohl noch weiter gefallen. Ich rappele mich auf und muss über mich selbst schmunzeln. Wo ist sie hin, meine Gelassenheit?

Beide Kinder sitzen schon an ihren Schreibtischen und haben mit dem Homeschooling begonnen. Dritte und fünfte Klasse, erstaunlich selbstständig, aber doch mit tausend Fragen. Bis mittags bin ich es, der versucht, Antworten darauf zu finden, so haben Anja und ich es vereinbart, um halbwegs organisiert durch den Lockdown zu kommen. Vormittags macht sie das Wohn- und Esszimmer zum Konferenzraum (was zu skurrilen Szenen führt, wenn wir anderen hinter ihr gebückt oder auf allen vieren zum Kühlschrank schleichen), nachmittags und abends arbeite ich an meinem Kram, wie gestern, meist bis spät in die Nacht hinein.

Ich weiß, dass es mir guttun würde, mehr draußen zu sein, gerade jetzt, aber es ist momentan nicht so einfach. Um dem ganzen Pandemiewahnsinn wenigstens etwas die Stirn zu bieten, habe ich eine alte Badewanne in unseren kleinen Garten gestellt und lege mich jeden Tag drei Minuten ins kalte Wasser. Heute klappt selbst das nicht. Nachdem ich mit den Kindern die anstehenden Aufgaben durchgegangen bin und mir den Bademantel übergeworfen habe, stehe ich vor der Draußenwanne und prügele wie blöd mit dem Vorschlaghammer auf das Eis ein, das sich darin gebildet hat. Gestern ging das doch noch! Irgendwann habe ich die dicke Schicht in einen riesigen Crushed-Ice-Haufen verwandelt. Aber da ist kein Wasser mehr, zumindest nicht genug, um sich hineinzulegen. Kurz versuche ich es und sitze auf dem Trockenen wie die Arche Noah nach der Sintflut. Also dreimal tief Luft holen, wieder nach drinnen und das Beste machen aus diesem Tag, der kaum holpriger hätte beginnen können.

Ist das alles eine biblische Prüfung? Die letzten Wochen haben schon schwer an unseren Kräften gezehrt. Erst wurde Anja positiv auf das Coronavirus getestet, dann ihre Eltern, die seit zwei Jahren schräg gegenüber wohnen. Zack, alle in Quarantäne, keinen Schritt mehr vom eigenen Grundstück runter. Klare, nachvollziehbare Vorgaben, die das Korsett, in dem sich unser selbstbestimmtes Leben – und natürlich nicht nur unseres – durch die Pandemielage ohnehin längst befand, noch weiter einschnürten. Nur für den Weg rüber zu Anjas Eltern setzten wir uns über diese Vorgaben hinweg, denn irgendjemand musste sich ja kümmern. Anjas Vater konnten aber weder wir noch die Ärzte retten. Er starb vor zwei Wochen auf der Intensivstation. Nur weil der behandelnde Arzt beide Augen zudrückte, durfte Anja ihn dort noch einmal kurz sehen. Die Kinder und ich waren aus unerfindlichen Gründen gesund geblieben, aber natürlich angeknockt vom Drama um uns herum. Mittlerweile ist die Quarantäne zwar aufgehoben, dafür wurde der Lockdown um eine Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr ergänzt. Wie gesagt, es ist nicht so einfach momentan.

Während ich stoisch zwischen den Schreibtischen der Kinder hin- und herrenne, Matheergebnisse durchsehe und Word-Funktionen erkläre, verliert sich mein Blick immer wieder in den kahlen Ästen der Bäume jenseits der Fensterscheiben. Ich weiß genau um die positive Wirkung der Natur für das Seelenheil, aber jetzt, wo ich schlichtweg nicht so raus kann oder darf, wie ich möchte, erscheint sie auf einmal als echter Sehnsuchtsort. Erst neulich habe ich im Podcast wieder über die kleinen Möglichkeiten gesprochen, die auch jetzt noch bleiben, darüber, dass JEDE Minute vor der Tür eine gute Minute ist. Nur: Auf Dauer lässt sich so eingeschränkt auch kein erfülltes Leben leben.

»Guck mal, ein Bild für Mama, damit sie nicht zu traurig ist wegen Opa.«

»Da wird sie sich sehr freuen«, sage ich lächelnd. Unser Sohn hat – wahrscheinlich irgendwann zwischendurch, so richtig habe ich das nicht mitbekommen – einen Fluss gemalt, der sich durch eine Hügellandschaft schlängelt und an dessen Ufer dichte Laubbäume stehen. Wir knarzen zu dritt die Treppe runter, um Anja das Bild zu zeigen und sie mit Mittagessen abzulenken. So mühsam diese Zeit auch ist – wir machen sie immerhin gemeinsam durch.

Später sitze ich im Keller vor einem Mikrofon, das von einem Schwenkarm aus schwarzem Metall in Position gehalten wird. Um mich herum stehen Schaumstoffplatten und eine dicke Isomatte, über mir hängt ein Daunenschlafsack, so aufgespannt, dass er möglichst viele Töne schluckt. Ich habe mir dieses Kabuff eingerichtet, um Aufnahmen für meinen Podcast zu machen. Tageslicht und Telefonempfang gibt es zwar nicht, aber seit ich ein langes Kabel über die Kellertreppe bis hier runter gelegt habe, komme ich zumindest ins Internet und kann auch Interviews aufzeichnen, ohne Menschen »in echt« zu treffen.

In den Muscheln meines großen Studiokopfhörers klingelt es kurz, dann erscheint ein Gesicht auf dem Computerbildschirm, auf das ich mich schon seit Tagen freue: Es gehört Holger Heiten, Psychotherapeut, Mitbegründer und Leiter des Eschwege Instituts, einer der erfahrensten Experten für Visionssuchen. Eine neue Vision wäre genau das, was ich jetzt ganz gut gebrauchen könnte. Wahrscheinlich brauchen wir sogar alle eine, eine neue Idee von Leben, gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch. »Krisen erfordern immer neue Visionen« – vielleicht habe ich das mal irgendwo als Zitat gelesen, vielleicht ist es aber auch einfach nur offensichtlich.

Die Visionssuchen, wie er sie durchführt und lehrt, erklärt mir Holger, haben ihren Ursprung in den rituellen Prüfungen indigener Völker. Oft ging es dabei um den Übergang zum Erwachsensein. Die jungen Männer (es waren meist Männer, denn nur in wenigen Kulturen gab es solche Rituale für Frauen) begaben sich über mehrere Tage an einen entlegenen Ort in der Natur, um durch Fasten, Schlafentzug und andere Formen der Selbstmarter Visionen zu erlangen, die sie im kommenden Lebensabschnitt leiten würden. Die extremen körperlichen Erfahrungen führten oft zu Halluzinationen, die als Kontaktaufnahme zu einem persönlichen Schutzgeist wahrgenommen wurden. Dieser sollte fortan an der Seite derer stehen, die ihm begegnet waren. Wer die Prüfung erfolgreich meisterte, wurde bei seiner Rückkehr gefeiert und war gerüstet für das, was vor ihm lag. »Initiationsriten gab es in fast allen Kulturen«, erläutert Holger, »natürlich nicht zwingend in solchen Ausprägungen, aber außergewöhnliche Herausforderungen waren sie immer und sind es heute noch.«

Seine eigenen prägenden Erfahrungen machte er in Kalifornien, wo die Psychologen Meredith Little und Steven Foster eine adaptierte, mit heutigen ethisch-moralischen Werten vereinbare Form der Visionssuche entwickelten. Der Ablauf ist folgender: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen (endlich sind auch Frauen dabei!) werden erst einige Tage in intensiven Gesprächen auf die große Prüfung vorbereitet, dann geht es – ebenfalls für einige Tage – alleine in die Natur, ohne feste Nahrung und Kontakt zur Außenwelt. Anschließend werden die dort gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse in größerer Runde und in Einzelgesprächen sortiert.

Ich möchte von ihm wissen, zu welchem Zeitpunkt es sinnvoll ist, diesen Schritt zu gehen. »Immer dann, wenn du das Gefühl hast, vor einem neuen Lebensabschnitt zu stehen«, antwortet Holger. »Deine Rolle in deinem Umfeld und das, was dir wichtig ist, wird einfach klarer, wenn du dich wirklich ganz fokussiert mit dir beschäftigst, in der Natur, ohne Ablenkung von außen. Die Natur ist ein wunderbarer Spiegel. Wir können uns selbst in ihr erkennen.« »Uns selbst erkennen«: Normalerweise begegnen mir Worte wie diese entweder als Floskel oder wichtigtuerische Überhöhung. Aus Holgers Mund sind sie aber weder das eine noch das andere. Der Mann hat genau das, was mir gerade am meisten fehlt: eine tiefe innere Ruhe, in der Zufriedenheit, Demut und Hoffnung schwingen.

Als wir unser Gespräch beenden, starre ich lange an die schlafsackverhängte Kellerdecke. Neuer Lebensabschnitt, Prüfung, die Natur als Spiegel, raus, Klarheit gewinnen – all das tanzt durch meinen Kopf, vermischt sich erst mit den Eindrücken der letzten Tage und Wochen, dann mit heimlichen Abenteuerträumen und zuletzt mit dem Bild, das unser Sohn heute gemalt hat. Dieser Fluss, die Hügel und Bäume. Was, wenn ich die Idee der Visionssuche für mich anders interpretiere und mich länger rausziehe, mich einer großen Herausforderung stelle? Ich spüre, wie sich etwas hochschaukelt in mir. Mein Gewissen versucht krampfhaft, dem Bauchgefühl Argumente entgegenzusetzen (zu egoistisch, die Familie!), aber ich ahne, dass es am Ende...

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