Philosophie der Physik - Eine Einführung

Philosophie der Physik - Eine Einführung

von: Norman Sieroka

Verlag C.H.Beck, 2014

ISBN: 9783406667954

Sprache: Deutsch

127 Seiten, Download: 2769 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Philosophie der Physik - Eine Einführung



2. Frühe Neuzeit: Mathematisierung der Physik


Sieht man zunächst von Details ab, so sind die größten allgemeinen Verdienste, die den Naturforschern der Frühen Neuzeit (16./17. Jh.) in der Entwicklung der erkenntnistheoretischen Motive der Physik zukommen, die eben erwähnte zunehmende Bedeutung des Experiments – zusammen mit einer stärker quantitativen Beobachtungskultur – und, was zum Großteil damit einhergeht, die zunehmende Mathematisierung der Physik. Damit ist das Bestreben gemeint, naturgesetzliche Zusammenhänge quantitativ genauer zu fassen und formal zu notieren. Die konkreten Ausgangspunkte zu einer solchen Mathematisierung waren dabei durchaus unterschiedlich, wie die folgende Darstellung versucht zu deutlichen. Zum Teil standen grundlegende Überzeugungen und Überlegungen zur Rolle von Symmetrien und der Geometrie im Vordergrund, zum Teil aber auch solche zum Ursprung und zur Rolle von Kräften.

Symmetrien: Kepler


Einen ersten Beleg für die zunehmende mathematische Formalisierung naturgesetzlicher Zusammenhänge wie auch für die steigende Bedeutung quantitativ exakter Beobachtungen bietet das Werk von Johannes Kepler (1571–1630); vor allem, wenn man seine frühen und späteren Arbeiten miteinander vergleicht.

Kepler ist davon überzeugt, dass Gott die Welt nach harmonischen Prinzipien erschaffen hat und dass es dem Menschen möglich ist, diese harmonischen Verhältnisse durch Geometrie nachzuvollziehen. So benutzt Kepler in seinem frühen Werk Mysterium Cosmographicum von 1596 eine Ineinanderschachtelung der Platonischen Körper, um die Umlaufbahnen der Planeten in unserem Sonnensystem zu beschreiben.

Damals waren sechs Planeten bekannt. Kepler nahm an, dass sie sich auf Kreisbahnen bewegen, und ordnete jedem der Planeten eine Kugelschale zu, auf der die jeweilige Kreisbahn liegen sollte. Die Abstände und Größen dieser sechs konzentrisch angeordneten Kugelschalen ergaben sich nun als Außen- und Innenkugeln der fünf Platonischen Körper (siehe Abb. 2 links; bei einer Außenkugel liegen sämtliche Ecken des Platonischen Körpers auf eben dieser Kugel, bei der Innenkugel sind es die Mittelpunkte sämtlicher Flächen).

Abbildung 2: links: Keplers Rekonstruktion der Planetenbahnen mittels Ineinanderschachtelung der Platonischen Körper von 1596; rechts: Skizze zu den drei Keplerschen Planetengesetzen von 1609.

Keplers frühe Arbeiten knüpfen damit an die Tradition einer Mathematisierung und Geometrisierung an, wie sie bereits in der Antike bei Platon und den Pythagoreern auftrat. Hier wird die physikalische Argumentation zum Großteil getragen von Symmetrieüberlegungen und Annahmen über spezielle Zahlenverhältnisse.

Allerdings erwies sich diese Rekonstruktion, die bei Kepler also vor allem auf allgemeinen geometrischen und metaphysischen Grundüberzeugungen beruhte, als empirisch problematisch. Insbesondere war für die Vorhersage der Bewegung des Mars die Annahme einer kreisförmigen Umlaufbahn um die Sonne untauglich. Was die Beobachtungsdaten zeigten, war: Wenn der Mars sich tatsächlich auf einer Kreisbahn bewegen sollte, so stand jedenfalls die Sonne nicht in deren Mittelpunkt. Eine andere Möglichkeit war die Annahme einer elliptischen Marsbahn. Das konnte mit den empirischen Daten in Einklang gebracht werden, und außerdem konnte man – im Gegensatz zum Kreismodell – so an einem geometrisch ausgezeichneten Ort für die Sonne festhalten: nämlich einem der beiden Brennpunkte der Ellipse.

In seiner Astronomia Nova von 1609 verallgemeinert Kepler nun die Annahme elliptischer Bahnbewegungen auf sämtliche Planeten – inklusive der Annahme, in einem der beiden Brennpunkte der jeweiligen Ellipsen stehe die Sonne. Das zusammen bezeichnet man heute als erstes Keplersches Gesetz (siehe Abb. 2 rechts).

Die weiteren Keplerschen Gesetze betreffen die Umlaufgeschwindigkeiten und -zeiten der Planeten. Zieht man von der Sonne zum jeweiligen Planeten eine imaginäre Linie, die sich mit dem Planeten um die Sonne bewegt, so überdeckt diese Linie gemäß dem zweiten Keplerschen Gesetz in gleichen Zeiten gleich große Flächen (in Abb. 2 rechts illustriert durch die Flächen F1 und F2). Laut dem dritten Keplerschen Gesetz schließlich ist das Verhältnis der Quadrate der Umlaufzeiten T zweier Planeten A und B gleich dem Verhältnis der Kuben ihrer großen Bahnhalbachsen a; also (TA/TB)2 = (aA/aB)3.

Die in der Astronomia Nova angegebenen Gesetzmäßigkeiten zur Planetenbewegung waren somit deutlich stärker davon geprägt, empirische Daten möglichst exakt mathematisch nachvollziehen zu können, als die eher theoretisch-spekulativen Annahmen des Mysterium Cosmographicum. Außerdem stellt Kepler im Werk von 1609, nicht aber in seinem Frühwerk, Überlegungen zu den Ursachen der Planetenbewegung an. Exakte Beobachtungen der Himmelsbewegungen existierten seit den alten Babyloniern, deren Sterntabellen auch Kepler benutzte. Doch die Beobachtung der Gestirne und die Prognose ihrer Konstellationen waren bis Kepler (auch bei Kopernikus noch) unabhängig gewesen von Spekulationen über die Ursachen für die am Himmel sichtbaren Veränderungen. Und Kepler stellt nun die Hypothese auf, die Ursache für die ellipsenförmige Bewegung der Planeten um die Sonne müsse eine Kraft sein.

Im hier behandelten Kontext von allgemeinen physikalischen Erklärungsstrategien ist es höchst bemerkenswert, dass im Fall der Symmetriebetrachtungen zu den Platonischen Körpern eine solche weitere Begründung gar nicht nötig schien. Insbesondere die Symmetrie kreisförmiger Planetenbahnen war sozusagen «Grund genug». Für die imperfekten Ellipsenbahnen galt das nicht mehr. Ihre Ineinanderschachtelung wurde nicht einfach als gegebenes Faktum akzeptiert, das keiner weiteren Begründung bedurfte oder fähig gewesen wäre. Stattdessen, so Keplers implizite Überzeugung, musste es einen tieferen Grund in Form der Wirkung einer Kraft geben, der erklärt, wie die Planeten quasi davon abgehalten werden, sich auf «perfekten» – also kreisförmigen – Bahnen zu bewegen.

Tatsächlich, so wird sich weiter unten zeigen, haben vor allem in der Teilchenphysik Symmetriebetrachtungen und -erklärungen auch heute einen geradezu selbstgenügsamen Erklärungsanspruch, der nicht weiter hinterfragbar oder begründbar erscheint.

Sprache der Kinematik: Galilei, Newton


Überlegungen zu Symmetrien wie beim frühen Kepler waren aber keinesfalls der einzige Weg hin zur Mathematisierung der Physik. Ein großer Erfolg der Frühen Neuzeit war die allgemeine mathematische Formulierung der Grundgesetze der klassischen Mechanik; und die basierte zu einem großen Teil auch auf anderen geometrischen Betrachtungen sowie auf kinematischen Überlegungen. Dabei meint «Kinematik» die Lehre der Bewegung, schließt also insbesondere die Begriffe Geschwindigkeit und Beschleunigung ein, wie sie zum Teil in der mittelalterlichen Impetustheorie vorbereitet wurden.

Auf Galileo Galilei (1564–1642) – genauer auf sein Werk Il Saggiatore (Die Goldwaage) von 1623 – geht das berühmte Zitat zurück, wonach das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben sei. Eine konkrete physikalische Gesetzmäßigkeit, die von ihm gefunden wurde und die als Illustration für die Mathematisierung und die neue Rolle des Experiments in der Frühen Neuzeit dienen kann, ist das Fallgesetz. In seiner ursprünglichen Darstellung basiert es auf den folgenden beiden Zusammenhängen: Erstens, die Fallgeschwindigkeit von Körpern ist proportional zur Fallzeit (und also – solange man den Luftwiderstand vernachlässigt – unabhängig von der Masse und Form eines Körpers). Zweitens, der Fallweg eines Körpers ist proportional zum Quadrat der Fallzeit. Beide Zusammenhänge führte Galilei zunächst auf der Basis allgemeiner kinematischer Überlegungen ein. Anschließend wollte er anhand von Experimenten die Fallbeschleunigung bestimmen und zugleich die Gültigkeit seiner Überlegungen empirisch erhärten. Die Überlegungen wie auch die Experimente waren 1609 im Wesentlichen abgeschlossen, wurden von Galilei aber erst 1639 in seinen Discorsi veröffentlicht.

Knapp ein halbes Jahrhundert nach Galileis Discorsi, nämlich 1687, erschien das physikalische Hauptwerk von Isaac Newton (1643–1727): die Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, die Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie. Dabei wird «Naturphilosophie» in Anlehnung an die antike Wortverwendung gebraucht, meint also sämtliche Naturwissenschaft oder Naturforschung. So enthält das Werk beispielsweise eine Kosmologie; sein klarer Schwerpunkt liegt allerdings auf dem, was wir heute als klassische Mechanik bezeichnen.

Newtons Principia stellen die erste einheitliche und mathematische Gesamtdarstellung der klassischen Mechanik dar und sind damit grundlegend für die weitere formale Entwicklung der Physik. Newton gelingt es, die gesamte Mechanik über drei Grundgesetze...

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